Rezension

Sehr verwirrend, wenn auch stilistisch top

Außer sich - Sasha Marianna Salzmann

Außer sich
von Sasha Marianna Salzmann

Bewertet mit 3 Sternen

Der Mangel, den wir stets empfinden

„Sie war sich nicht sicher, wem sie schon welche Geschichte erzählt hatte, sie war sich ihrer eigenen Geschichte nicht mehr sicher, was sie eigentlich tat in einer Stadt außerhalb der Zeit, suchte sie wirklich ihren Bruder oder wollte sie einfach nur verschwinden.“

Inhalt

Die Zwillinge Alissa und Anton erleben eine schwierige Kindheit in Russland, ihre Eltern bieten ihnen ein sehr gefühlskaltes Erziehungsklima, geprägt von Gewalttätigkeiten und Übergriffen. Der Vater, ein Alkoholiker, die Mutter sprachlos angesichts der Leere ihres Lebens. Aus diesem Grund klammern sich die beiden so sehr aneinander, dass fast zu einer Person verschmelzen. Doch nun, sind sie junge Erwachsene und streben hinaus in ein eigenes, selbstbestimmtes Leben. Für Alissa, die alle nur Ali nennen, gibt es keine Leichtigkeit, keinen Frohsinn sondern nur eine fortdauernde Suche nach ihrer wahren Identität. Als Mädchen geboren, sucht sie nun den männlichen Teil in sich, bindet sich die Brüste ab, trägt Männersachen und beginnt sich Testosteron zu spritzen und möchte Anton genannt werden. Sie sucht ihren Bruder in Istanbul, sie sucht eine Zuflucht, sie sucht Menschen, die sie lieben wie sie ist, ungeachtet ihres Geschlechts, vorbehaltlos und andauernd. Doch Anton, ihr Bruder möchte genau das Gegenteil – Abstand von der inzestuösen Beziehung, Abstand zur Mutter und seiner Herkunft, ein Leben jenseits seiner Vergangenheit mit anderen Beziehungen, die ihn nicht mehr an seine Kindheit erinnern. Und so begegnen wir den Suchenden, die einen Sinn brauchen, sich eine Heimat wünschen, einen Ort der Akzeptanz, der Innerlichkeit und der Wärme – doch was werden sie finden, wenn sie der Wahrheit ein Stück näherkommen?

Meinung

Sasha Marianna Salzmann, verfasst in ihrem Debütroman ein splitterndes Gesamtbild über Menschen am Rande der Verzweiflung, die sich freistrampeln und innere Ketten sprengen möchten. Denen die Suche wichtiger ist als das Ziel, die sich verlieren, neu erfinden, anders zusammensetzen und sich selbst aus einer äußerst distanzierten Perspektive betrachten. „Ausser sich“ trifft den Kern der Erzählung, ohne klaren Sinn, ohne klaren Willen, doch irgendwie getrieben, wie Körnchen im Getriebe, so klein und unbedeutend und doch von immenser Kraft. Die Wahrheit dieses sehr anspruchsvollen, innovativen Romans, liegt irgendwo zwischen der Assoziation des Lesers und den Momentaufnahmen aus dem Leben der Protagonisten.

Gerade zu Beginn des Textes erfährt der Leser nicht nur etwas über die Hauptfigur des Romans sondern in erster Linie über deren Herkunft, über Repressalien in der Vergangenheit der Familie, die nicht nur mit Gewaltbereitschaft einhergeht sondern auch mit Ausgrenzung, mit sozialer Missachtung und die von politischen Missständen im Heimatland berichtet, die ebenso wie die Willkür im kleinen Familienkreis emotionale Spätschäden verursacht. Beginnend über die Geschichte der Urgroßeltern, hin zu den Großeltern und schließlich zu den eigenen Eltern, greift die Autorin auch gesellschaftliche Entwicklungen auf, vermischt diese mit einer persönlichen Erzählung und entwirft damit ein stimmiges Hintergrundbild, welches der Leser automatisch mit den Ereignissen der Gegenwart verbindet. Gerade diese Familiengeschichte, die sozusagen den Rahmen bildet, hat mir sehr gut gefallen und wirkt wesentlich realistischer und greifbarer als die Haupthandlung.

Sprachlich ist es der Autorin gelungen bleibende, wichtige Sätze in eine ungewöhnliche Form zu bringen, der Fließtext wirkt dicht, ausgereift und stimmig. So dass der Lesefluss trotz einiger auftretender Unverständnisse stets erhalten bleibt. Kleine und größere Leseabschnitte gliedern den Text in sinnvolle kleinere Erzählungen, Zeitsprünge kommen vor, lassen den Leser innehalten, erzwingen aber keine vordergründige Logik. Nicht der Einzelablauf ist entscheidend, sondern die Entwicklung.

Fazit

Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen ungewöhnlichen, stilistisch ansprechenden Roman über die Identitätssuche einer jungen Frau, mit erschreckender Vergangenheit, zielloser Gegenwart und ungewisser Zukunft. Immer vor dem Hintergrund der Fragen: „Welcher Weg ist der richtige? Kann man finden, wonach man sucht? Hat das Leben einen tieferen Sinn? Und wenn ja, wird er sich erschließen?“

Der Gesprächsstoff geht hier nicht so schnell aus, doch die Personen bleiben abstrakt, die Geschlechtsspezifik konnte mich nicht überzeugen und es war stellenweise sehr anstrengend, an der Geschichte dranzubleiben, weil sie eher ein Splitterbild denn ein ansprechendes Gemälde darstellt. Trotzdem oder gerade deswegen sollte man dieses Buch lesen, denn es vermag Literatur auf hohem Niveau auf eine neuartige Sichtweise zu lenken und den Leser nachhaltig zu beeindrucken.