Rezension

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Sherlock Holmes' langer Schatten

Attack Unsichtbarer Feind - Douglas Preston, Lincoln Child

Attack Unsichtbarer Feind
von Douglas Preston Lincoln Child

Preston & Child verkleiden sich als Sir A. Conan Doyle und ihren Helden Pendergast als Sherlock Holmes.

Im Zuge ihrer Diplomarbeit stößt die Forensik-Studentin Corrie Swanson auf einen Fall von elf Bergarbeitern, die vor gut hundert Jahren in einem Bergdorf angeblich von einem Grizzlybären ermordet wurden. Angeblich. Denn genauere Untersuchungen der Leichen lassen darauf schließen, daß sie keineswegs einem Tier, sondern vielmehr einem menschlichen Mörder zum Opfer fielen. Und möglicherweise besteht eine Verbindung zu einer ganz aktuellen Serie gewaltsamer Todesfälle. In dem mittlerweile als Schiressort etablierten Ort scheint es jemand auf die Reichen und Prominenten abgesehen zu haben. Special Agent Pendergast eilt seinem Schützling Corrie zu Hilfe, die wegen Leichenschändung angeklagt werden soll und rührt gewohnt scharfsinnig an Geheimnissen, die manche lieber weiterhin unter dem Schnee verborgen gesehen hätten ...

In 65 Kapiteln hetzt das erfolgreiche Autorenduo Douglas Preston und Lincoln Child durch den mittlerweile dreizehnten Fall des brillianten Agenten. Routiniert wird dabei mit Cliffhangern und Perspektivenwechseln zwischen den Abschnitten die Spannung erzeugt und gehalten, vertrautes Terrain für Freunde des Genres. Im Gegensatz zu bereits abgearbeiteten Spannungsbögen innerhalb der Serie, die sich jeweils über mehrere Teile erstrecken (etwa die Trilogie um die Ermordung von Pendergasts Gattin), stellt "Attack" eine eigenständige Geschichte dar, was auch einen Erstkontakt des Lesers mit der Figur ermöglicht. Immerhin wird bereits Pendergasts Auftritt zelebriert: Analog zu einer bekannten Figur in einem Film, von der zunächst nur die Silhouette, nicht jedoch das Gesicht erkennbar ist, wird der Agent als Mann in schwarzem Anzug beschrieben, der auf einem Balkon in einer Villa an der Côte d'Azur thront und bedächtig ein Glas Pastis genießt. Kein Name wird genannt, die Autoren vertrauen darauf, daß die Figur bereits in der zeitgenössischen Literatur etabliert ist. Kenner der Serie dürfen sich wissend lächelnd über die Begegnung mit einem alten Bekannten freuen, während Neueinsteiger vorerst mit dem Nimbus eines Helden konfrontiert werden.

Ob im Kino, im TV oder in zahlreichen Romanfassungen, Sherlock Holmes erlebt derzeit eine bemerkenswerte Renaissance, der sich auch das erfolgreiche Autorenduo Preston/Child nicht verschließen will. Bereits der Prolog erweist sich als ein geschickter Kunstgriff: Durch die anekdotenhafte Schilderung einer Begegnung zwischen Sir Arthur Conan Doyle und Oscar Wilde wird dem Roman bereits eine eindeutige Richtung vorgegeben. Wie auch Sherlock Holmes verfügt auch Aloisius Pendergast über distinguierte Manieren, einen exquisiten Geschmack und detaillierte Sachkenntnis in nahezu allen Lebensbereichen. Parallelen werden jedoch nicht nur anhand der Figuren, sondern auch anhand der Methodik, mit der beide zu Werke gehen, gezogen. So wirken der verantwortliche Polizeichef und der Brandermittler wie Grundschüler, wenn ihnen Pendergast in einer Ruine anhand der gefundenen Spuren den genauen Tathergang rekonstruieren kann und dabei lediglich seine Beobachtungsgabe und deduktives Schlußfolgern bemüht. Indem sich der FBI-Agent jedoch auf die Spur eines verschollenen Manuskripts aus der Feder von Sir Arthur Conan Doyle begibt, wird die Hommage noch auf eine Meta-Ebene gehoben, erhält zusätzlich zur Imitation noch ein wesentliches innovatives Element und erarbeit sich damit eine Exklusivstellung unter den Holmes-Nachahmungstätern.

Die offensichtlich analoge Figur zu Dr Watson wäre Corrie Swanson, wie auch ein Dialog in Kapitel 48 impliziert, in dem Pendergast sie unter seiner Anleitung Schlüsse zum aktuellen Fall ziehen läßt. Im Gegensatz zu Doyles besonnen beobachtendem Ich-Erzähler präsentiert sich Pendergasts Protegee als weitaus impulsiver und scheint mit Vorliebe nur wenige Fettnäpfchen auszulassen. Ein ganz bewußter Bruch zur detektivischen Arbeit wird auch vollzogen, wenn Corrie nicht mit Lupe und Hirnschmalz agiert, sondern via iPad im Internet ihre Wissenslücken auffüllt. Auf diese Weise wird einerseits ein Gegengewicht zu Pendergast etabliert und andererseits diesem eine weitere Gelegenheit geboten zu brillieren. Immerhin zur Identifikation mit dem Leser scheint Corrie besser geeignet als Pendergast. Wo dieser nämlich aufgrund seiner Souveränität in jeder Situation oft zu glatt, zu steril erscheint, gewinnt sie gerade durch die Abwesenheit dieser Perfektion an Farbe. Außerdem läßt der Umstand, daß Pendergast neben seinem Schützling weitgehend die Rolle einer Nebenfigur einnimmt, darauf schließen, daß hier ein Generationenwechsel vollzogen werden und sie als neue Heldin des Autorenduos etabliert werden soll.

Fazit:
In einer Hommage an Sir Arthur Conan Doyle schmücken sich die Autoren mit dem Stil des Briten (immerhin wird ein verschollenes Manuskript aufgespürt) und ihre Hauptfigur Aloysius Pendergast mit den Attributen des Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Daß dabei die eigentliche Geschichte - eine Serie von Brandstiftungen in einem noblen Wintersportort - zuweilen in den Hintergrund rückt, mindert das Vergnügen am Spiel mit Figur und Thema keineswegs.