Rezension

Sieg der Liebe

Mit jedem Jahr - Simon van Booy

Mit jedem Jahr
von Simon Van Booy

Bewertet mit 4 Sternen

In  seinem neuen Roman  “Mit jedem Jahr“ erzählt Simon Van Booy die Geschichte eines kleinen Mädchens, das mit 6 Jahren seine Eltern durch einen Unfall verliert und nur noch einen lebenden Verwandten hat: seinen Onkel Jason. Jason hat jedoch zehn Jahre zuvor jeglichen Kontakt zu seiner Familie abgebrochen und scheint auf Grund seiner Vorgeschichte nicht gerade prädestiniert für eine Vormundschaft. Er hat eine Gefängnisstrafe verbüßt und neigt zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Er lebt in einem heruntergekommenen Haus, hat wenig Geld und trägt seit einem Motorradunfall eine Beinprothese. Dennoch hört sich Sozialarbeiterin Wanda an, was Harvey über ihren Onkel zu erzählen weiß und beschließt, Jason mit seiner Nichte zusammenzubringen. Sie verlässt sich auf ihre Intuition und Menschenkenntnis und  verstößt gegen alle Vorschriften. Am Ende kann Jason das Kind adoptieren. 
Jasons und Harveys Geschichte wird nicht chronologisch erzählt. In zahlreichen Rückblenden erfährt der Leser, wie sich allmählich Zuneigung, dann  Liebe zwischen den Beiden entwickelt, wie Jason lernt, seine impulsiven Handlungen zu beherrschen. Er bringt viele Opfer auch finanzieller Art. Harvey studiert erfolgreich an einer privaten Kunsthochschule. Jason besucht die 26jährige in Paris, wo sie bei einer Werbeagentur arbeitet. Zum Vatertag hat Harvey einen Geschenkkarton mit verschiedenen Gegenständen zusammengestellt, die jeweils an wichtige Ereignisse in ihrer Kindheit und Jugend erinnern. Jeden Tag ist ein Geschenk der Anlass, die dazugehörige Geschichte zu erzählen. Längst kennt der Leser auch Jasons Vergangenheit und empfindet Mitleid und tiefe Sympathie für einen Jungen, der seinen jüngeren Bruder Steve  in der Schule vor Mitschülern und vor dem alkoholabhängigen brutalen Vater beschützte – wenn es sein musste, mit dem eigenen Körper und dessen schreckliche Kindheit der Grund war, warum sein eigenes Leben aus dem Ruder lief. Harvey hat ihm geholfen, sich seiner Vergangenheit zu stellen und als Erwachsener Wiedergutmachung zu leisten, um endlich Frieden zu finden. 
Van Booy erzählt eine sehr berührende Geschichte und schafft dabei die Gratwanderung zwischen gefühlvoll und sentimental. Die Struktur des Romans ist nicht nur durch die fehlende Erzählkontinuität kompliziert, sondern auch dadurch, dass am Ende durch Harveys letztes Geschenk ein Geheimnis aufgedeckt wird, das nur der aufmerksame Leser in vollem Umfang versteht, nicht aber die Protagonisten. Dunkle Andeutungen in den ersten Kapiteln bereiten diese Enthüllung schlüssig vor, so dass es sich keineswegs um ein aufgesetztes, die Glaubwürdigkeit strapazierendes Ende handelt. Van Booy ist ein sehr schöner Roman über eine Vater-Tochter-Beziehung gelungen.