Rezension

Skurriles Büchlein aus Irland - lesenswert

Der Schlüssel - Máirtín Ó Cadhain

Der Schlüssel
von Máirtín Ó Cadhain

Bewertet mit 4 Sternen

J. war Papierbeauftragter.

Mit diesem Satz beginnt Ò Cadhains sowohl scharzhumorige als auch ernste Novelle und entführt den geneigten Leser in die unlogische Logik der Bürokratie, indem der gälische Autor seinen Protagonisten in einen Präzedenzfall katapultiert, für dessen Lösung keine vorgeschriebene Vorgehensweise existiert: J. wird versehentlich in seinem fensterlosen Büro eingeschlossen.

Bisher hatte er seine Augen darauf trainiert, zu blicken ohne zu sehen. […] Wände, kräftige Wände, so selbstsicher wie sein eigener Blick. Es gab nur einen Ausweg: durch die verschlossene Tür.

Der tragische Held J. erinnert nicht nur aufgrund seiner Reduzierung auf ein Initial an Kafka, sondern ebenfalls ob seiner Konfrontation als verunsicherte und angepasste Figur mit dem unüberschaubaren Bürokratismus, was der Novelle eine kafkaeske Stimmung verleiht. Beinahe verzweifelt versucht der Protagonist, sich an die Vorschriften seines furchteinflößenden, zu jenem Zeitpunkt jedoch abwesenden Chefs S. zu klammern und darüber nachzudenken.

Er wiederholte jedes einzelne Wort so, wie S. es gesagt hatte. Er hatte das vage Gefühl, das sei ein Teil der religiösen Unterweisung, die seiner Seele für immer ihr spirituelles Siegel ausdrücken würde: Wer hat den Öffentlichen Dienst erschaffen? Gott. Was erschafft der Öffentliche Dienst? Beamte. Was bist du? Ein Beamter. Wozu bist du erschaffen worden? Um in diesem Büro zu sitzen.

Der beklemmenden Atmosphäre verleiht Ò Cadhain eine äußerst skurrile und bedrohliche Note, indem er im Vorfeld einen surrealen und somit ungewöhnlichen Feind, der trotz verschiedener Umschreibungen nicht greifbar ist, ins Feld ziehen lässt, dem sich J. tagtäglich aufs Neue stellen muss: die Papiere und deren Aktenordner.

Sie schienen einer anderen Gattung der Schöpfung anzugehören, einer anderen als wir sind, und erkannt unter uns zu weilen. Es war leicht vorstellbar, dass ein Ordner und sein Aufkleber ihren eigenen Glauben und ihr eigenes Jenseits besaßen. Einige, egal, wie tief man sie auch in die düstersten Gelasse schob, schafften es auf irgendeine Weise, ihren Weg zurück ans Licht zu finden.

Obgleich der Autor - aufgrund seines Schreibstils - einen distanzierten Blick auf die gesamte Szenerie wirft, berührte mich J.s Schicksal erstaunlicherweise mehr als gedacht, was sowohl seiner Hilflosigkeit, als auch rührenden und somit tragischen Loyalität gegenüber der Bastion des Verwaltungsamtes verschuldet sein mag. Zwischendurch sind sehr leise und einfühlsame Töne vorzufinden:

Er brauchte eine Weile, um sich wieder als lebendiges Wesen zu fühlen, dann als menschliches Wesen, und noch länger, um sich an seine eigene Persönlichkeit zu gewöhnen, von seinen eigenen Gedanken ganz zu schweigen. Es war ein wütender Kampf, um seine Identität zurückzugewinnen, um sie von einer formlosen Wolke zu stehlen, wo Aufruhr und Chaos herrschten, und sie an ihren angemessenen Platz zurückzubringen.

Diese doch sehr tragische Geschichte würzte der Autor mit humorvollen Situationen und Ideen, indem er anderen Figuren beispielsweise Namen wie 'Fitzlaber' oder 'Ò Profit' verlieh, die hier natürlich Programm sind. Auch andere Textstellen laden zum Schmunzeln ein, die ich hier aber nicht näher erläutern werde, um die Rezension spoilerfrei zu halten. Da J. eher schlichten Gemüts ist, wusste ich teilweise nicht, ob ich manchmal situationsbedingt lachen, innerlich weinen oder ihn einfach schütteln sollte.

Sogar J. gab zu, dass es Zeitverschwendung war. Was hatte ein Papierbeauftragter davon, eine Sammlung von Ordnern anzusehen, eine Art Abstraktion, wenn er nicht gerade einen oder zwei besondere Ordner suchte? Nicht, dass irgendwer J. in diesen Fragen instruiert hätte. Er hatte sich das alles selbst überlegt.

Inmitten der Erzählung blitzten wundervolle Sätze, wie beispielsweise "Verschwommene Gedanken flatterten wie Fledermäuse durch den Glockenturm seines Geistes.", auf, die mir sehr gut gefielen und mich atmosphärisch an Paul Celan erinnerten. Leider gab es jedoch ebenfalls Formulierungen, die für mich schwer vorstellbar waren. So klang beispielsweise eine Stimme „so glatt wie die frische Milch aus einem Kuheuter“. Hier soll vermutlich angedeutet werden, dass der Stimme einen sprudelnden oder rauschenden Tonfall o.ä. innewohnt - dennoch kann ich das Bild nicht gänzlich einordnen. Zum Glück stieß ich während des Lesens nur selten auf derlei Kuriositäten. Sollte jemand eine Deutungsebene zum gewählten Beispiel parat haben: Immer nur her damit.

Anmerken möchte ich noch, dass der Tonfall mancher Figuren recht derb ist und deren Charaktere entsprechend in die Fäkalsprache rutschen.

Da Cadhain ein gälischer Autor war, nimmt seine Satire immer wieder mal versteckte Bezüge und kokettiert mit Anspielungen, die einem Nicht-Iren kaum geläufig sein könnten. Diese werden glücklicherweise im Anhang kommentiert. Hierbei hätte ich mir jedoch Fußnoten oder irgendeinen Verweis gewünscht, um bei treffenden Stellen sogleich nachschlagen zu können.

Obgleich die Novelle mehr als 60 Jahren alt ist (übrigens: Eine Zeittafel zum Leben des Autors ist im Anhang ebenfalls vorzufinden), wirkt sie dermaßen frisch, als sei sie erst heute geschrieben worden - sie wirkt zeitlos.