Rezension

So viel mehr als nur eine Liebesgeschichte!

Die Schlange von Essex - Sarah Perry

Die Schlange von Essex
von Sarah Perry

Bewertet mit 5 Sternen

Dieser Roman wird beworben als eine Liebesgeschichte vor einem historischen Hintergrund im viktorianischen England. Das alleine reicht aus, um mein Interesse zu wecken, auch wenn ich eher noch ein Stück weiter zurück in der Geschichte gehen würde, eher an den Anfang des 19. Jahrhunderts, um rundum glücklich zu sein. Doch auch der Beginn der Industrialisierung hat seinen Reiz. Und für eine Liebesgeschichte ist der historische Rahmen eh meist eher nebensächlich.

 

Schräge, aber genau deswegen liebenswerte Charaktere

So zumindest dachte ich, als ich dieses Buch das erste Mal in die Hand genommen habe. Mit gerunzelter Stirn las ich die ersten Seiten und war mir noch nicht sicher, was ich von der Fülle an Figuren, die dem Leser direkt präsentiert werden, halten soll, zumal sie alle auf den ersten Blick mehr als unsympathisch wirken. Doch irgendwie hatte das auch seinen Charme, es war erfrischend anders, der ganze Schreibstil war spannend. Also habe ich weitergelesen.

Mit jeder Seite, die wir sowohl Cora als auch Will besser kennenlernen, werden die beiden sympathischer. Sie sind umgeben von einer Reihe weiterer Personen, die ebenfalls in ihren Eigenarten schwer zu lieben sind: Da ist der zukunftsgewandte Arzt Luke, der eine schwierige äußerliche Erscheinung hat und im Umgang eher spröde wirkt. Die Ehefrau Stella, die so perfekt und gutaussehend ist, dass sie kaum menschlich wirkt. Das Kindermädchen Martha, das zur besten Freundin von Cora geworden ist, die immer nur grummelig, unzufrieden und auf Provokation ausscheint. Sogar die Kinder, zum Beispiel Coras Sohn Francis, sind so seltsam, dass man nur schwer mit ihnen warm wird.

Doch genau darin liegt die Stärke dieses Buches. Wir lernen echte Charaktere kennen. Wir lernen, dass der erste Eindruck täuscht. Allesamt sind sie schnell mit ihren Urteilen über die anderen, allesamt kommen zu einem derart negativen Eindruck der anderen Figuren, noch ehe sie ein Wort mit ihnen gewechselt haben, dass man sich fragt, warum all diese Menschen so negativ und misstrauisch sind. Dann, langsam, lernen sie einander kennen. Sie sind gezwungen, die guten Seiten in den anderen zu sehen, oder auch nur, dass die anderen in ihnen selbst ihre guten Seiten hervorbringen. Und so geht es uns auch als Leser: Unweigerlich verliebt man sich in jede einzelne der Figuren. Ihre seltsamen Macken werden liebenswert und machen sie zu echten Menschen mit Ecken und Kanten. Man wünscht ihnen alles Glück im Leben, während man gleichzeitig spürt, dass es unmöglich ist, dass am Ende alle glücklich werden.

 

Packende Geschichten vor historischer Kulisse

Zeitgleich fällt ein Schatten über das kleine Städtchen, in dem diese Geschichte spielt. Man erzählt sich Legenden von der Schlange von Essex, einem Monster, das wohl Ähnlichkeiten mit dem Monster von Loch Ness hat. Es kommt im Nebel aus dem Fluss und bringt Tod und verderben. Mehrere Menschen sterben, andere werden krank oder verschwinden. Die einfachen Leute fangen an, an ihrem Hirten zu zweifeln und der Pastor Will hat alle Hände voll damit zu tun, ihren Glauben zu wahren. Immer wieder kehrt die Handlung zu dieser Schlange zurück. So, wie Cora und Will darum streiten, ob im Glauben an Gott oder in der Befolgung der Theorien Darwins die Vernunft liegt, so kämpft die Bevölkerung gegen den Aberglauben an, dem sie schließlich doch verfällt. Immer wieder wird der Kampf zwischen rationaler Vernunft und irrationalem Glauben, aber auch zwischen rationalem Glauben und irrationaler Vernunft zum Thema.

Währenddessen tobt in London in den Armenvierteln der Kampf um Arbeiterbefreiung. Die Thesen von Marx sind in der Welt, der Sozialismus ist bekannt, das Leid der Industriearbeiter ist unermesslich. Obwohl nur wenige Szenen hier spielen, schildert Perry diesen Aspekt des Fortschritts doch sehr eindringlich. Dass sie auch ihre Hauptpersonen in diesen Konflikt eintreten lässt, einige mit ehrenwerten Ansichten, einige eher weniger, gibt der Geschichte eine weitere spannende Dimension.

 

Eine komplexe Schau auf das Leben

Vor dem historischen Hintergrund und seinen ganz besonderen Herausforderungen ist eine Liebesgeschichte zwischen einer Witwe und einem verheirateten Pastor keine leichte Angelegenheit. Doch es ist nicht einfach nur romantische Liebe, von der wir hier lesen. Es entwickeln sich Freundschaften, die beinahe noch tiefer gehen, als jede Liebe es jemals könnte. Wir sehen Familien, Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, die so problematisch und so voller ungewollter Verletzungen sind, dass man unwillkürlich mit allen Beteiligten mitleidet. Die ganze Facette menschlicher Emotionen, menschlicher Beleidigungen und Zerwürfnisse spielt sich in diesem beinahe 500 Seiten langen Buch ab – und am Ende musste ich wirklich mit den Tränen kämpfen.

Zu Beginn stand ich dem Buch sehr skeptisch gegenüber, doch es hat mich gefesselt und mein Herz erobert. Es ist kein Wunder, dass es den Britischen Buchpreis gewonnen hat. Ich habe auch lange überlegt, ob ich ihn auf meinem Blog als „Anspruch“ oder als „Romance“ einordne, doch am Ende habe ich mich gegen Romance entschieden, da einfach so viel mehr als eine bloße Liebesgeschichte in diesem Roman steckt. Wie alle anderen Romane, die ich in die Kategorie „Anspruch“ einordne, so regt auch dieses Buch dazu an, über das Leben und sich selbst nachzudenken und eventuell einige Urteile noch einmal zu revidieren.

 

Fazit:

Der Roman „Die Schlange von Essex“ von Sarah Perry ist die berührende Geschichte eines ausgewählten Ensembles von Menschen, die füreinander da sein wollen, aber es am Ende doch kaum können. Vor dem Hintergrund der Industrialisierung, des Siegeszuges der Naturwissenschaften über die Kirche, aber auch im Angesicht von beharrlichem Aberglauben kämpfen die Hauptfiguren darum, Liebe und Freundschaft zu finden, ihre Stolz zu behalten und einen Sinn im Leben zu finden. Die tief berührende Geschichte von Cora, Will, Luke, Martha und all den anderen ist ein Meisterwerk, das uns gekonnt Einblicke in die Empfindsamkeit der menschlichen Seele gibt. In seiner Gesamtheit ist dieser Roman wie eine perfekte Kaffee-Kreation: nicht nur schön, sondern auch intensiv im Geschmack und überraschend in seiner Komplexität.