Rezension

Spannend und nah an der Wirklichkeit

Nummer 365 - Sabrina Wolv

Nummer 365
von Sabrina Wolv

Bewertet mit 4 Sternen

Sabrina Wolv erzählt eine Geschichte, die erstmal wie eine typische Endzeit-Dystopie klingt: Die privilegiertesten aller Menschen leben in Eden, einer Kuppel mit lebenserhaltenden Systemen, während draußen in der vergifteten Luft ein erbitterter Krieg um Ressourcen und Lebensraum tobt. 

Was dieses Buch aber aus der Masse der Dystopien heraushebt: die wichtigsten Charaktere sind keine Erwachsenen – ja, noch nicht einmal Jugendliche! Denn am Anfang (die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahre) sind Strudel und seine Freunde gerade mal sechs oder sieben Jahre alt. In einem Alter, in dem sie eigentlich unbeschwert spielen sollten, drückt man ihnen stattdessen Waffen in die Hand, unterzieht sie einer gnadenlosen Gehirnwäsche und spricht ihnen jede Individualität ab, indem man sie durchnummeriert und brandmarkt wie Vieh. Wenn sie sterben, nennt man das "ausmustern", als wären sie nur defekte Werkzeuge. 

Laut terre des hommes gibt es zur Zeit schätzungsweise 250.000 Kindersoldaten. Was einem also im ersten Moment wegen des Alters der Kinder unmöglich vorkommt, ist es leider nicht! Das Buch konfrontiert den Leser mit einer Fiktion, die unserer Wirklichkeit bedrückend nahe kommt. Obwohl die Kinder selber noch zu klein sind, um die volle Tragweite zu begreifen, sind Drama und Tragik ihrer Situation  dennoch nicht weniger verstörend. 

Geht es zunächst hauptsächlich ums nackte Überleben während der Ausbildung, wird die Handlung immer komplexer und interessanter, je älter Strudel wird und je mehr er begreift. Was kann man von dem glauben, was die Ausbilder erzählen? Warum sagt eine Soldatin zu Strudel, die Kinder seien alle Bestien? Warum bekommen manche von ihnen spezielle Tabletten? 

Strudel wirkt am Anfang so kindlich und verängstigt, dass man ihm kaum zutraut, seinen Onkel getötet zu haben, aber man erfährt schnell genug über sein Leben, um zu begreifen, dass er einfach furchtbar gequält wurde und keinen anderen Ausweg mehr sah. Das ganze Buch hindurch erlebt man immer wieder, wie sehr er noch immer unter den traumatischen Erinnerungen leidet. Im Laufe der Geschichte sieht man an ihm zwar ein enormes inneres Wachstum – aber auch die Auswirkungen des Trainings. Den Leser beschleicht immer wieder die Frage, inwieweit die Kinder verantwortlich sind für ihr Verhalten, wenn sie genau das tun, für das sie abgerichtet wurden. 

Viele der Kinder wirken in den ersten Kapiteln deutlich älter, als sie tatsächlich sind, sowohl im Verhalten und darin, wie sie sprechen, als auch in ihren körperlichen Fähigkeiten. Später im Buch machte das für mich durchaus Sinn – die Kinder leben schließlich in einer Extremsituation und können nur überleben, indem sie viel zu schnell erwachsen werden! –, anfangs fand ich es jedoch nicht immer schlüssig.

Es dauerte ein wenig, bis ich mit den wichtigsten Charakteren richtig warm wurde. In den ersten Kapiteln hatte ich das Gefühl, dass manche davon eher blass blieben – aber man muss dem Buch da einfach etwas Zeit lassen. Ich hatte auch erst Probleme damit, mich wirklich in die Geschichte fallen zu lassen, aber je älter die Kinder wurden, desto schwieriger fand ich es, das Buch zwischendurch auch mal zur Seite zu legen! Im letzten Viertel schnellt der Spannungsbogen noch einmal so richtig in die Höhe, und die Geschichte entwickelt sich in eine unerwartete Richtung, mit stärkeren Science-Fiction-Elementen. 

Am Anfang wirkt der Schreibstil sehr einfach, was aber gut zum Alter von Strudel passt, aus dessen Sicht wir das Ganze sehen. Der Stil wächst sozusagen mit den Protagonisten, wird zunehmend packender und flüssiger zu lesen. Besonders die Actionszenen im letzten Teil des Buches fand ich großartig geschrieben, rasant und atemlos. Bei mir löste das richtiges Kopfkino aus!  

Oft ist der Schreibstil zwar distanziert und wenig emotional, auch in dramatischen Szenen, aber das sind dann Situationen, in denen die Kinder ihre Emotionen verdrängen, um funktionieren zu können.

Fazit:
Sabrina Wolv greift in ihrer Dystopie ein Thema auf, das leider auch in unserer Realität eine Rolle spielt: Kindersoldaten. Der kleine Strudel ist gerade mal sechs Jahre alt, als er zum "Lichtbringer" gemacht wird und dem Feind doch eigentlich den Tod bringen soll – bevor er überhaupt begreifen kann, was das bedeutet. 

Trotz des spannenden Themas ist "Nummer 365" in meinen Augen kein Buch, das schon in den ersten Kapiteln begeistert, sondern eines, dem man etwas Zeit geben muss, sich wirklich zu entwickeln. Danach fand ich es aber auch sehr spannend, interessant und lohnend, und dieser erste Band bietet eine solide Grundlage für weitere Bände.