Rezension

Starke Protagonistin

Jane Eyre - Charlotte Brontë

Jane Eyre
von Charlotte Bronte

Bewertet mit 4 Sternen

Inhalt 
Die Waisin Jane Eyre wächst bei ihrer Tante Mrs. Reed auf, die sie stets behandelt, als wäre sie ein schlechter Mensch, und wegsieht, wenn ihre eigenen Kinder Jane misshandeln. Mit 10 wird sie auf ein strenges Internat geschickt, wo sie zur Frau heranwächst. Später arbeitet Jane dort als Lehrerin, doch sie sehnt sich nach mehr. Und so nimmt sie schließlich eine Stelle als Lehrerin des Mündels des undurchschaubaren Mr. Rochester an.

Meinung 
„Jane Eyre“ habe ich vor vielen Jahren von meiner Mutter geschenkt bekommen, nachdem ich begeistert alle Romane von Jane Austen verschlungen hatte. Warum ich so lange gebraucht habe, um diesen Klassiker zu lesen, kann ich im Nachhinein gar nicht mehr sagen. Denn trotz der 600 Seiten mit eher gemächlicher Handlung ließ sich der Roman schnell und angenehm lesen.

Gleich vorweg möchte ich all denen, die wie ich irrtümlicherweise Jane Austen mit Charlotte Brontë vergleichen wollen, sagen, dass ein solcher Vergleich kaum angebracht oder hilfreich ist. Ein Vergleich liegt insofern nahe, dass beide berühmte britische Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts sind und Frauen zu ihren Hauptfiguren machten. Doch während Austen ihre Geschichten stets mit viel Witz und einem teils bösen Humor und deutlich romantischer erzählt, geht es in „Jane Eyre“ dunkler, dramatischer und ernster zu. 

„Jane Eyre“ ist, wie auch der Untertitel einiger Ausgaben aussagt, eine Art fiktive Autobiografie. Jane erzählt rückblickend von ihrem Leben von ihrer Kindheit bis etwa zu ihrem 30. Lebensjahr, wobei sie einige Zeiten überspringt, sodass nur die Wendepunkte ihres Lebens Gehör finden.
Daher sollte man sich vor dem Lesen bewusst sein, dass der Roman keinen typischen Spannungsbogen hat, da er eine Lebensgeschichte und kein Abenteuer erzählt.
Ich persönlich fand das Buch trotzdem sehr interessant, da gerade Jane als Protagonistin sehr ausführlich charakterisiert wird und eine überaus sympathische und detailreiche Hauptfigur ist. 
Bereits in jungen Jahren fällt sie durch eine hitzige und emotionale Natur auf, die sich für eine junge Dame zu ihren Zeiten nicht gehörte, die Jane zuweilen jedoch nicht unterdrücken kann. Dass dies besonders dann geschieht, wenn sie sich oder andere ungerecht behandelt sieht, machte sie für mich sehr sympathisch. 
Man leidet sehr mit Jane unter ihrer schlechten Behandlung durch Tante Reed oder Mr. Brocklehurst, den strengen Vorsteher des Internates, aus das sie kommt. Doch die Art, wie Jane auf das Geschehen zurückblickt und versucht, die Menschen zu verstehen, die ihr Unrecht getan haben, ist bewundernswert weise und macht sie als Figur umso liebenswerter, nicht zuletzt, weil man sich wünscht, man würde eine ähnliche Gelassenheit gegenüber den eigenen Mitmenschen besitzen.
Janes größte Qualität, die sie auch in emanzipierteren Zeiten wie unserer noch zu einer besonderen Figur macht, ist jedoch ihre Willensstärke, mit der sie sich im Roman vor allem Männern widersetzt, die sie herumschubsen und zu Dingen überreden wollen, die ihren Prinzipien widersprechen. Stets begleitet sie auch ihr Wunsch nach Unabhängigkeit und danach, als eigenständige Person wahrgenommen zu werden. Zu Charlotte Brontës Zeiten dürfte diese Darstellung recht ungewöhnlich gewesen sein, doch auch im heutigen Licht der vielen „kleine, graue Maus verliebt sich in sexy Milliardär und lässt alles mit sich machen“-Romane könnte sich manch eine Protagonistin noch eine Scheibe bei Jane abschneiden.

Die Liebesgeschichte des Romans hebt sich ebenfalls angenehm von den vielen oberflächlichen modernen ab, da sie von Anfang an auf dem Intellekt und der Persönlichkeit der beiden Figuren beruht und nicht auf ihrem Aussehen. Ja, die beiden beschreiben sich sogar gegenseitig als nicht schön und sagen einander solche Dinge gnadenlos ehrlich ins Gesicht, was sehr erfrischend ist.
Der lockere Umgang, den beide trotz ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellungen mit einander pflegen, ist angenehm und unterhaltsam mitzuverfolgen und man kann regelrecht spüren, wie entspannt und wohl Jane sich in seiner Nähe fühlt, nachdem sie zuvor so viel mit Menschen zu tun hatte, auf die sie stets einen makellosen Eindruck machen musste, der doch nie gut genug war.

Große Probleme hatte ich dagegen mit der Figur des Mr. Rochester. Einerseits ist er eine interessante und ungewöhnliche Figur, denn sein Reiz für Jane ergibt sich nicht aus seinem Aussehen sondern aus seiner geheimnisvollen, unberechenbaren Art und seiner offenen, unverfälschten Art gegenüber Jane, den philosophischen Gesprächen, die die beiden führen können, und der Offenheit, mit der er Jane Dinge anvertraut. In seinen zärtlichen, romantischen Momenten konnte ich durchaus nachvollziehen, was Jane an ihm findet.
Doch oft ist er auch grob, eigensinnig und selbstbezogen. Er lügt Jane an und teilweise verlangt er von ihr Dinge, die sie nicht tun möchte, ohne sich um ihre Einwände zu kümmern, und scheint kein Interesse daran zu haben, sich in sie hineinzuversetzen. An einer Stelle des Buches betreibt er regelrecht Psychoterror, um seinen Willen zu bekommen, worunter Jane extrem leidet.
Ein großer Schwachpunkt des Romans ist für mich, dass dieser Konflikt nie ganz aufgelöst wurde und ich am Ende immer noch nicht wusste, was ich von Rochester halten soll.
Rochester war auch der Grund, wieso das Ende für mich nur bedingt nachvollziehbar war und mir insgesamt zu schnell gibt.

„Jane Eyre“ liest sich, obwohl objektiv gesehen nicht viele große Dinge passieren, sehr angenehm und schnell. Die Figuren und ihre Beziehungen entwickeln sich auf interessante Weise und es gibt sogar ein paar geschickt eingebaute und aufgelöste Grusel-Elemente. 
Verwirrend fand ich lediglich die Passagen, in denen die Erzählerin plötzlich ohne erkennbaren Grund von der Vergangenheit für wenige Sätze in die Gegenwart wechselt. Für Leser*innen, die kein Französisch sprechen, könnte es zumindest in meiner Ausgabe auch anstrengend sein, dass es einige französische Dialogzeilen gibt, die nicht übersetzt werden und sich durch den Kontext nur bedingt erklären.

Fazit 
„Jane Eyre“ ist ein ruhiger, durch die facettenreiche Hauptfigur jedoch interessanter Roman. Die Protagonistin als starke junge Frau, die sich selbst treu bleibt, ist sehr sympathisch und angenehm. Mit Mr. Rochester und dadurch auch mit Teilen der Handlung und des Endes konnte ich dagegen leider nicht ganz so viel anfangen.