Rezension

„Steine, Birke, Gras, Stuhl, Steine, Birke, Gras, Stuhl.“

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm - Selja Ahava

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm
von Selja Ahava

Bewertet mit 4 Sternen

~~Klappentext
„Wäre es möglich, Augenblicke einzufrieren, würde ich diesen in eine Plastikdose legen. Dann könnte man im Winter über davon zehren.“
Nach dem Verlust ihrer großen Liebe Antti fühlt sich auch Anna wie aus der welt gefallen: Als es ihr immer weniger gelingt, ihre Erinnerungen festzuhalten, und ihr Gedächtnis langsam unzuverlässiger wird, klammert sie sich an Wortlisten („Stein, Birke, Gras, Stuhl“) und erfindet Wörter für Dinge, die keinen Namen haben. Mit den Jahren trotzt sie den Zumutungen des Alltags mehr und mehr mit ihrer Vorstellungskraft.
Als alte Frau schließlich blickt Anna zurück auf ihr Leben, so, wie sie sich daran erinnert, an schöne wie an schwere Momente, an die Zeit in Finnland wie auch den Neuanfang mit Thomas in England. Vor allem denkt sie an ihr Häuschen mit den blauen Vorhängen auf einer Schäreninsel, inmitten von Möwen, Schilf und krummen Kiefern, wo sie die Sommer mit Antti verbrachte – und natürlich an den Tag, an dem ein Wal durch London schwamm …

 

„Anna war die Zeit zwischen den Händen zerfallen. Wie eine Flickendecke lag sie auf ihren Knien, alle Stücke gleich groß und gleich weit voneinander entfernt. Anna betrachtete sie verwundert, ohne darin eine größere Logik zu erkennen.
Manchmal stiegen Teilchen der Erinnerung vom Krankenbett in die Luft auf, fingen an zu tanzen und gerieten kreuz und quer durcheinander. Dann musste Anna lachen (…)“ (Seite 17)

Dieser ungewöhnliche Roman beschreibt die Geschichte von Anna und von ihrem Versuch gegen das Vergessen anzukämpfen. Nach dem Tod ihrer großen Liebe Antti bemerkt sie es das erste Mal, das sie bestimmte Dinge anfängt zu vergessen. Sie kämpft dagegen an, in dem Sie Liste fertigt. Zuerst ganz einfache Listen, in denen sie einzelne Worte festhält. So wie sie es früher im Spiel mit Antti gemacht hat. Doch mit der Zeit vergisst sie immer mehr, bringt sich und andere in Gefahr. Immer öfter versucht sie gegen das Vergessen anzukämpfen. In schlimmen Tagen kann sie sich nur mit ihren Listen über Wasser halten. Aber irgendwann vermischt sich alles in ihrem Kopf. Sie weiß irgendwann nicht mehr, was ist die Realität und was ist die Vergangenheit …

„Anna drückte die Kinder erneut an sich, alle sechs kleine Knäul, aus Teig entstanden und in der Schokoladenschublade gefunden, als Balkonblume gesprossen und dem Sofakissen entwachsen. Sie sah zu, wie die Kinder durch den Metalldetektor gingen, mit Postkarten in der Hand, mit Annas guten Wünschen und einem leeren Koffer im Gepäck, und in den Wind der Welt zurückkehrten.“ (Seite 206)

Mich hat diese Geschichte sehr bewegt. Auch wenn ich am Anfang große Probleme hatte der Geschichte zu folgen. Denn die Autorin Selja Ahava bemächtigt sich einem sehr eigenwilligen Stil. Sie schreibt so sprunghaft wie Annas Erinnerungen sind. Man muss sehr langsam und genau lesen, weil man jederzeit wieder mit einem Zeitsprung und/ oder Szenenwechsel rechnen muss. Mich hat das fasziniert, weil ich glaube, dass die Autorin damit aufzeigen möchte, wie es sich anfühlen muss, wenn man beginnt zu vergessen. Das es eben keine zusammenhängenden Erinnerungen mehr gibt, dass alles verschwommen und zerfallen ist. Das der Mensch, der anfängt zu vergessen keine Macht hat dies aufzuhalten und sich den Erinnerungen die kommen einfach hingeben muss. Selja Ahava zeigt was für ein Chaos im Kopf herrschen muss, und bringt dieses Chaos gekonnt aufs Papier.

„Bald würde es dunkel werden. Früher oder später würde es sehr dunkel werden, und dagegen konnte Anna nichts tun. Die Worte verschwanden, die Erde rieselte, und die Steine kollerten. Da waren Gesichter, da waren Stühle, was immer da auch war, neuerdings war alles so schwierig. Man musste in den Löchern suchen und sich die Namen überlegen, doch auch das war es nicht. Aber es war sehr traurig.“ (Seite 211)

Sicherlich kein einfaches Buch und kein einfaches Thema. Doch die Autorin schafft es, dies mit sehr leisen, gefühlvollen und nachdenklichen Tönen umzusetzen. Unbedingt lesen!