Rezension

Streitbares Buch, aber lesenswert

Die offene Wunde des Islam - Vishal Mangalwadi

Die offene Wunde des Islam
von Vishal Mangalwadi

Bewertet mit 3.5 Sternen

Kaum ein aufgeklärter Mensch wird hierzulande noch die Gefährlichkeit des "Islamischen Staates" infrage stellen. Wohl aber stellt sich die Frage: Ist der Islam in seiner eigentlichen Aussage und Lehre genauso gefährlich? Haben wir es im IS mit einer Ansammlung von verrückten Fundamentalisten zu tun, die, wie schon so oft in de Geschichte, eine vom eigentlichen Wesen her friedliche Religion missbrauchen? Oder muss die Lehre des Islam, konsequent befolgt, unweigerlich zur Bekämpfung oder gar Auslöschung aller Andersgläubigen führen, wie der "Islamische Staat" das auf seine Fahne geschrieben hat?

Hat mich dieses Buch der Beantwortung dieser Fragen nähergebracht? Teils ja, teils nein. Vishal Mangalwadi schreibt als überzeugter Christ. Als solcher weist er schlüssig nach, dass das Christentum tatsächlich eine solche Religion ist, die zwar oft genug von Mächtigen missbraucht wurde, aber bei konsequentem Befolgen der Lehren Jesu zutiefst friedlich ist. Außerdem führt Mangalwadi den Erfolg unserer westlichen Demokratien auf ihre geistliche Grundlage zurück, die ihre Ursprünge in der biblischen Lehre vom Reich Gottes hat. Man möchte vieles gegen diese Sichtweise einwenden, aber so naiv ist sie bei genauerer Betrachtung gar nicht. Der Autor aus Indien überrascht mit seiner fundierten Kenntnis der Geschichte des christlichen Abendlandes.

Weniger überzeugend, weil zu lückenhaft belegt, fand ich dahingegen seine Argumentation, dass die dschihadistische, gewalttätige Version des Islam der ursprüngliche Islam ist, wie der Prophet Mohammed ihn lehrte und praktizierte. Diese Aussage hätte ich sehr gerne aus dem Mund des mit dem Autor befreundeten Imams oder von diesem kommentiert gehört. Ich bin ziemlich sicher, er hätte diese Aussage nicht unwidersprochen so stehenlassen. Die mangelhafte Beweisführung in diesem Punkt ist eine große Schwäche des ansonsten hochinteressanten und klug geschriebenen Buches.

Das erste Kapitel schockt allerdings mit gegensätzlichen Gefühlen, die es in mir auslöst. Von fassungslosem Kopfschütteln bis zu freudiger Zustimmung ist alles dabei. Was wäre, fragt der Autor beispielsweise, wenn George W. Bush, anstatt im Irak einzumarschieren, Saddam Hussein ins Weiße Haus eingeladen hätte und mit ihm ein christliches Gespräch unter Freunden geführt hätte? So viel sollte man schon von Politik verstehen, dass man Saddam, der ganze Dörfer mit Giftgas entvölkerte, nicht mal so mir nichts dir nichts ins Weiße Haus hätte einladen können. Dabei weiß der Autor schon aus erster Hand, wovon er redet. Ist er doch mit einer Gruppe fundamentaler junger Muslime, die seine öffentliche Predigt in London gestört hatten, hinterher ins Café gegangen, um mit ihnen friedlich über Glaubensdinge zu diskutieren. Auch wenn diese Einleitung unglücklich ist, verkörpert der Autor so für mich eine hohe Menschlichkeit und Glaubwürdigkeit. Und dann ist da noch die Friedensvision aus dem Propheten Jesaja, von der Straße, die von Ägypten nach Assyrien führen wird, und mit ihr ein sehr guter Ansatz: "Die Herausforderung ist, die Vergangenheit kritisch zu prüfen und zu verstehen; das Wagnis einzugehen, die Gegenwart durch den Glauben zu überwinden, und darauf hinzuarbeiten, dass Jesajas großartige Zukunftsvision Wirklichkeit wird." Allein dieser Satz ist es wert, dem Buch noch eine Chance zu geben. Also habe ich weiter gelesen und wurde nicht enttäuscht.

Im zweiten Kapitel wird anschaulich dargestellt, wie sich die Proteste für mehr Freiheit und Demokratie in vielen arabischen Ländern in ihr Gegenteil verkehren konnten. Die Chronologie der Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien wird anschaulich zusammengefasst, und mein bisher aus Nachrichtenbruchstücken bestehendes zerfleddertes Informationsgewebe wird hier zu einem schlüssigen Puzzle zusammengesetzt.

Im dritten Kapitel erfahren wir etwas über den Ghostwriter des militanten Islamismus: einen gewissen Sayyid Qutb, der in den sechziger Jahren einen dreißigbändigen Korankommentar schrieb und heute als Märtyrer verehrt wird. Wir erfahren auch einiges über die Entstehung der Muslimbruderschaft, deren großer Erfolg und rasche Verbreitung sich auf die Ungerechtigkeit der britischen Vorherrschaft und die Heuchelei des etablierten Islam gründeten.

Überraschend ist dann wieder die Sicht des indischen Autors auf unsere westliche, und inbesondere die britische Pressefreiheit, die schon früher existierte als bei uns: sie spiegelt für ihn die biblischen Prophetenvorbilder wider, die auch damals schon kein Blatt vor den Mund nahmen. "Den muslimischen Kulturen ist es sehr schwergefallen, eine freie Presse und eine demokratische Opposition zu etablieren. Das liegt daran, dass in der islamischen Tradition Propheten und Herrscher ihre Kritiker umbringen." Pressefreiheit. Das ist ein Punkt, über den man nachdenken sollte.

In den nachfolgenden Kapiteln erfahren wir etwas über die Christenverfolgungen durch den Islam, das Sykes-Picot-Abkommen, die Hintergründe des ersten Golfkrieges, über den seit Ewigkeiten schwelenden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Vieles ist meinem Gefühl nach durchaus scharfsinnig und treffend analysiert, dabei immer gut verständlich.

Mangalwadi betrachtet unsere westlichen Demokratien im Licht ihrer christlichen Grundlagen und warnt vor einer rein säkularen Demokratie: "Reine Demokratie ist furchterregend, weil sie die unumschränkte Herrschaft der Mehrheit ist. Die Tyrannei eines Despoten lässt sich mit einer einzigen Kugel beenden. Aber unter der Tyrannei der Mehrheit sind Versklavung oder Verrat die einzigen Möglichkeiten, die einer terroristischen Minderheit noch bleiben." Dem wird die unumschränkte Herrschaft einer Minderheit (wie das Kalifat) gegenübergestellt, genauso wenig wünschenswert. Dem islamischen Konzept des alles im Kampf gegen die Ungläubigen vereinenden Kalifats stellt der Autor das biblische Konzept der Völker/ Nationen entgegen (die allerdings durch den Säkularismus geschwächt wurden).

Es ist ein Buch für gläubige Menschen. Atheisten wird es schwerfallen, dem Autor in einigen Punkten zu folgen. Zum Beispiel finde ich persönlich die These sehr spannend, dass es Gott selber war, der die Menschen in Nationalstaaten unterteilte, "um die Unterdrückung durch Weltreiche wie das von Babylon oder Rom zu minimieren". Mangalwadi nennt als Grundlagen des Kalifats: "Der Islam ist allen anderen Religionen überlegen und wird sie besiegen. Muslime können allen, die sich nicht bekehren, das Gesetz der Scharia auferlegen und ihnen hohe Steuern abverlangen oder sie töten. Von den Grundlagen her schließt somit ein Kalifat die Möglichkeit eines friedlichen und dennoch echten Islam aus." Wenn das stimmt, gewinnt die alte Geschichte vom Turmbau zu Babel eine völlig neue Dimension...
In diesem Zusammenhang fällt auch immer wieder das Datum 1648, der Westfälische Friede. Er "brach die bedrückende Einheit der Christenheit auf. ... Hinter jener erzwungenen Einheit, überhöht durch eine religiöse Ausdrucksweise, verbarg sich nichts anderes als das hierarchische Römische Reich. Es war das heidnische Bild eines Imperiums, von der Kirche als 'Reich Gottes' benannt."- Es ist doch unerhört, wichtige Zusammenhänge unserer europäischen Geschichte so schlüssig vom analytischen Scharfblick eines Inders erklärt zu bekommen...

Einiges ist mir allerdings auch zu einfach. Und auch der theologischen Argumentation des Autors kann ich nicht überall folgen. Die Ausführungen darüber, wie die Ablehnung der Dreieinigkeit dem Islam schadet, sind schon recht hoch gegriffen. Wie übrigens auch die Vermischung der Islamkritik mit der Lehre von der Menschwerdung Gottes. Obwohl mir die Argumentation des Autors hierzu gut gefallen hat. Aber ich bleibe lieber bei dem an anderer Stelle angeführten Gleichnis vom Unkraut und dem Weizen - einem der eindrücklichsten Beweise dafür, dass das Christentum friedlich ist.
Mangalwadi belegt durch aussagekräftige Bibelstellen, dass das Christentum das Prinzip der Gnade, Barmherherzigkeit und Versöhnung lehrt. Nur die versöhnende Kraft des Kreuzes, so schreibt er, könne die tiefe unversöhnliche Rivalität zwischen Sunniten und Schiiten heilen. Vielleicht hat er Recht. Aber warum spricht er der muslimischen Kultur die Ehrfurcht vor dem Leben ab? In ihrem offenen Brief an den Kalifen al-Baghdadi schreiben hohe muslimische Würdenträger: "Es ist im Islam verboten, Unschuldige zu töten." ( http://madrasah.de/leseecke/islam-allgemein/offener-brief-al-baghdadi-un... ) Das unterscheidet sich für mich nicht wesentlich vom mosaischen Gebot: "Du sollst nicht töten."

"Triumph über den Terrorismus" lautet vollmundig die Überschrift des letzten Kapitels. Und hier muss ich dem Autor schon wieder widersprechen. "Ein 'wahrer' Islam, der dem Koran und der Tradition folgt, erfordert das Kalifat und den Dschihad." - Hier irrt der Autor meiner Meinung nach. Mir hat ein gebildeter Muslim einmal erklärt, "Dschihad" bedeute "innere starke Anstrengung", "innerer Kampf". Das liegt, wie ich finde, sehr nah bei dem inneren Kampf, zu dem Paulus uns Christen im Epheserbrief auffordert: "Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes..."

Solche irreführenden Ungenauigkeiten sind eine ziemliche Schwäche des ansonsten hochinteressanten Buches. Und doch pauschalisiert es weniger, als man auf Grund der sachlichen Mängel annehmen möchte.

"Viel dringender als größere und bessere Armeen braucht der Westen Nachfolger Christi, die gelernt haben, Weltreligionen und internationale Beziehungen zu verstehen. Sie müssen danach streben, die Außenpolitik ihrer Regierungen zu einem realistischen Werkzeug werden zu lassen, um andere Nationen - zu segnen! Dieser Realismus kann auch kriegerische Mittel einschließen, aber seine vorrangigen Werkzeuge sind Liebe und Segen. Segen auch für die, die uns verfluchen."

Alles in allem ein sehr lesenswertes Buch. Streitbar, aber auch wertvoll.

Kommentare

E-möbe kommentierte am 25. April 2016 um 23:14

Eine sehr ausführliche und klasse begründete Rezension. Stark! Hat mir glatt Lust auf das Buch gemacht.