Rezension

Sympathische Protagonistin auf dem Weg, sich selbst zu finden

Ich, Eleanor Oliphant - Gail Honeyman

Ich, Eleanor Oliphant
von Gail Honeyman

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Ich, Eleanor Oliphant“ ist nicht nur der Titel des Romandebüts der Schottin Gail Honeyman sondern so stellt sich auch die Protagonistin im Buch dem Leser vor. Die bald 30jährige Eleanor hat eine bewegte Vergangenheit, die sie für jeden deutlich spür- und sichtbar gezeichnet hat. Wäre das Leben so bunt wie ein Farbklecks stände Eleanor auf dessen dunkler Seite vergleichbar mit dem Schemen einer Frau auf dem Cover dieses Buches. Doch die Farben laufen ineinander und das Bunte, welches Spaß und Freude beinhaltet, ist auf dem Weg zu Eleanor. Schaut man auf die Rückseite des Buchumschlags bemerkt man links unten einen jungen Mann, der sich ebenfalls auf einem dunklen Randgebiet befindet, aber nicht nur bereits selbst vom bunten Glück gefärbt  wurde sondern auch seinen Blick ins Helle in Eleanors Richtung wirft. Ein gutes Vorzeichen.

Eleanor ist studierte Altphilologin, arbeitet aber seit neun Jahren bei einer Grafikdesign-Agentur als Buchhalterin. Wenn sie sich tagsüber ihrer Zahlenwelt gewidmet hat, geht sie nach getaner Arbeit nach Hause und verbringt dort allein ihre Stunden bis zum nächsten Dienstantritt. Ihre Freizeit verbringt sie mit Lesen und Fernsehen Einmal in der Woche ruft ihre Mutter an, die im Gefängnis sitzt. Ein Freund ist ihr nur der Wodka, dem sie immer wieder gerne zuspricht.

Eines Tages sieht sie ihren Traummann bei einem Konzert, zu dem sie Eintrittskarten gewonnen hat, auf der Bühne. Fortan geht ihr der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, ihren Schwarm zu treffen und sie stellt sich vor, dass sie schon bald ein Paar sein werden. Während der neue Kollege Raymund sie ein Stück auf ihrem Heimweg begleitet sehen die beiden wie ein älterer Mann zu Fall kommt. Sie eilen ihm zu Hilfe und auch nach der gemeinsamen Aktion hält Raymund den Kontakt zu ihr. Doch seine Gegenwart findet Eleanor eher lästig als erfreulich. Sie folgt weiter ihrem Herzen, den Sänger für sich zu gewinnen. Sie hat noch einige Erfahrungen mit dem Leben zu meistern um zu erkennen, welche Gefühle ihr tatsächlich wichtig sind.

Von den ersten Seiten an wurde mir klar, dass Eleanor ein Erlebnis in ihrer Kindheit hatte, das sie mehr oder weniger erfolgreich verdrängt, sie aber traumatisiert und sichtbare Narben in ihrem Gesicht hinterlassen hat. Gail Honeyman lässt ihre Protagonistin den Roman selbst erzählen und auf diese Weise habe ich über Eleanors Vergangenheit nur so viel erfahren können, wie sie selbst bereit war preiszugeben. Das war anfangs recht wenig doch mit der Zeit hat sie sich immer mehr geöffnet und Gefühle zugelassen. Ihre Kindheit hat sie in Pflegefamilien verbracht. Ihre Mutter sitzt also vermutlich schon sehr lange im Gefängnis für ein von ihr verübtes Verbrechen. Worum es sich dabei handelt bleibt bis fast zum Ende hin unbenannt, allerdings hatte ich eine Vorahnung. Die Gespräche mit ihr durchbrechen das Einerlei ihres Alltags und vor allem ihrer Einsamkeit, sind ihr aber verhasst. Dennoch hält sie an den Telefonaten fest, vielleicht weil sie der letzte Kontakt zu einem Mitglied ihrer Familie sind. Sie weiß nicht, wer ihr Vater ist und sonst sind ihr keine Verwandten bekannt.

Um sich vor körperlichen und seelischen Wunden zu schützen, lebt Eleanor zurückgezogen, gerne beobachtet sie jedoch das Verhalten ihrer Mitmenschen. Sie hat es nie für nötig befunden, Freundschaften zu schließen, vermutlich weil sie durch den häufigen Wechsel der Pflegestellen immer wieder neu beginnen musste, Vertrauen aufzubauen. Sie war gut in der Schule und konnte ein Studium abschließen. Im weiteren Verlauf erzählt sie im Rückblick von einer Beziehung während dieser Zeit, die ihr sehr schlechte Erfahrungen gebracht hat. Ein weiterer Grund also für sie, sich von näheren Bekanntschaften fernzuhalten.

Bücher sorgen dafür, dass Eleanor ein breites Allgemeinwissen hat. Im Rahmen ihrer Begeisterung für den Sänger entdeckt sie das Medium Internet für sich, dass ihr letztlich mehr bringt als nur das Wissen über ihren Traummann. Aber bei all ihren äußeren Veränderungen und ihrer zaghaften Kontaktaufnahme hat sie immer die Stimme ihrer Mutter im Kopf, die sich negativ über jedes Tun äußert. Obwohl sie sich dessen absolut bewusst ist, findet sie nicht selber einen Weg aus dieser frühen Prägung dem Willen der Mutter zu folgen um keine Restriktionen befürchten zu müssen. Zunehmend genießt sie das Mitgefühl und die kleinen Aufmerksamkeiten der langsam vertrauter werdenden Personen. Aktuell positive Erfahrungen mit guten Ratschlägen decken sich mit dem früheren  Erleben einer gelungenen Umsetzung der Empfehlung einer Fachkraft. Daraus folgt nicht nur für Eleanor eine Aufforderung, sich professionelle Hilfe zu suchen. Ihr wachsendes Selbstbewusstsein geht mit einem entsprechenden Feedback einher.

Der Schreibstil der Autorin ist angenehm zu lesen. Hauptsächlich beschreibt die Ich-Erzählerin ihren Alltag. Unterschwellig umgibt die Geschichte von Beginn an das Geheimnis um das besondere Geschehen in der Kinderzeit Eleanors. Es brauchte seine Zeit bevor die Protagonistin sich ihren Vorstellungen entsprechend für ihren Schwarm ausgestattet hatte, dadurch entstand im mittleren Buchteil eine gewisse Länge. Eleanor hat ganz eigene Ansichten über passendes Verhalten in allen möglichen Situationen, die sie durch ihre Beobachtungen, vielfältiger Lektüre und den Vorgaben ihrer Mutter entwickelt hat. Hieraus ergeben sich immer wieder amüsante Szenen. Sie wirkte schutzbedürftig auf mich, obwohl sie sich schon vielfach behauptet hatte.

Ich musste Eleanor einfach sympathisch finden und ich habe mich für sie gefreut, dass sie nach so langen Jahren des Alleinseins einen Weg zu sich selbst gefunden hat, der durch den Moment der vermeintlichen Liebe ausgelöst worden ist und auch eine Öffnung zu anderen hin bewirkt hat. Mir als Leser wurde dadurch wieder einmal klar, auf welche Dinge es im Leben wirklich ankommt: Vertrauen, Offenheit und Aufrichtigkeit. Dieses Buch empfehle ich gerne weiter.