Rezension

Tochter des Diktators

Tochter des Diktators
von Ines Geipel

Bewertet mit 5 Sternen

Anni Paoli will eine Geschichte erzählen. Nein, sie muss sie erzählen, damit sie nicht in Vergessenheit gerät oder wie so vieles andere einfach aus den Geschichtsbüchern gestrichen wird. Und weil alle anderen inzwischen tot sind. Es ist die Geschichte von ihrem Kindheits- und Jugendfreund Ivano Matteoli und seiner großen Liebe Bea. Ivano und Anni wachsen im italienischen Dorf Cigoli, zwischen Pisa und Florenz gelegen, auf. Wie viele der Dorfbewohner sind auch Ivanos Eltern Kommunisten und früh schon verschreibt sich der Junge ebenfalls diesen Gedanken. Anfang der 60er Jahre haben Ivano und Anni die Schule beendet und ihre Wege trennen sich. Anni geht zum Kunststudium nach Paris, Ivano nach Leningrad. Dort begegnet ihm das deutsche Mädchen Bea, eigentlich Beate, noch eigentlicher Maria und am eigentlichsten die erste Tochter der DDR: Ivano verliebt sich in die Adoptivtochter von Lotte und Walter Ulbricht. Alle kommunistisch-sozialistischen Überzeugungen reichen jedoch nicht aus, um den Vorstellungen des Landesvaters zu genügen und so ist die Liebe der beiden vom ersten Tag an zum Scheitern verurteilt.

 

Ines Geipels Roman „Tochter des Diktators“ mag zwar fiktiver Natur sein, die Eckdaten um Ivano und Bea sind jedoch real. Geboren als Maria Pestunowa wurde sie 1946 vom Landesvater adoptiert, um dem sozialistischen Idealbild der Familie und Stalins Wünschen zu genügen. Ihr Studium in Leningrad und die Hochzeit, sowie die spätere Geburt einer gemeinsamen Tochter und die Zwangsrückkehr in die DDR sind belegt. Ebenso das Ende dieser Verbindung, das durch den Passentzug eingeleitet wurde. Der Tod Beate Ulbrichts ist bis heute ungeklärt.

 

Erzählt wird ihre Lebensgeschichte ohne dass Bea jemals persönlich in Erscheinung tritt. Dies ermöglicht Lücken und Unklarheiten zu schließen bzw. erhebt dadurch auch nie den Anspruch auf vollständige Rekonstruktion. Ebenso müssen wir nicht spekulieren über Gedanken und Gefühle, die die junge Frau durch die Repressionen des Staates, der zugleich ihre Eltern waren, ausgesetzt war. Eine literarische Form, die sehr passend gewählt wurde.

 

Allerdings verschiebt sich hierdurch auch der Fokus der Handlung. Er liegt viel mehr auf dem Italien der kleinen Gemeinschaften. Dem Italien der Nachkriegszeit, das durch Korruption und eine ganz eigene Art des Terrorismus geprägt war. Für Anni ist die Flucht in ein fremdes Land und in die Kunst der Weg des Ausbruchs, Ivano sucht im Kommunismus und dem Traum einer Revolution den Ausweg. Ironischerweise ist es dann Anni, die 1968 in Paris eine echte Revolution miterlebt.

 

Mit Anni, einer Figur, die sowohl Außen- wie auch Innensicht vertreten kann, ist eine passende Erzählerin gefunden. Der Roman kann vor allem durch ironische und oftmals zweideutige Formulierungen Punkten, die besonders die im Zusammenhang mit Familie Ulbricht entstehenden Absurditäten und der festgeschriebenen Normen des italienischen Dorfes angemessen in Worte fasst: „Beate Matteoli (...), die Tochter des Berliner Mauerbauers Walter Ulbricht“ oder

„Hätte Cigoli einen Beichtkatalog im Hinblick auf Niedertracht, Obsession und Verrat, er wäre bunt und schillernd wie ein Pfau.“

 

In sehr bildhafter Sprache wird das Leben einer öffentlichen Person rekonstruiert, die nie öffentlich sein wollte:

„Nur der Geheimdienst führte Buch. Über das harte Ringen einer Staatstochter, etwas außerhalb dessen zu leben, was die Staatseltern ihr zubilligten. (...) Man hatte sie zu zwei Marionetten gemacht, die an Fäden hingen, von unsichtbaren Händen weitergereicht, ein Puppenpaar ohne Boden und in Dauergefahr.“

 

Heute ist sie aus dem Bewusstsein weitgehend verschwunden, ebenso wie der Staat, in dem sie aufwuchs. Fast ironisch, eher aber tragisch, dass ihr Ende ungeklärt bleibt, wo all ihre Handlungen zu Lebzeiten minutiös überwacht wurden. Immerhin bleibt ihr mit Ines Geipels Roman wenigstens ein lesenswertes literarisches Vermächtnis.