Rezension

Tod statt Tee im Hôtel Atlantique

Hôtel Atlantique - Valerie Jakob

Hôtel Atlantique
von Valerie Jakob

Bewertet mit 4.5 Sternen

Im äussersten Südwesten Frankfreichs, an der Grenze zum spanischen Baskenland, im fiktiven St. Julien de la mer, liegt das Hôtel Atlantique. Hier hat die rüstige 73jährige Aurélie ein Dauer-Appartement gemietet und trifft sich regelmässig mit ihrer Freundin Delphine. Ihr vertraut sie vieles an, einiges davon erweist sich im Nachhinein sehr wichtig - als nämlich Aurélie tot aufgefunden wird und ihr Neffe Damien sich sofort sein Erbe aneignen will. Als auch auf Aurélies Anwesen "Les Balaines" Unbekannte im Garten herumstreifen, wird die frühpensionierte Kommissarin Delphine misstrauisch. Nun macht Aurélies Bitte, nach ihrem Ableben auf dem Anwesen nach dem Rechten zu sehen, Sinn. Zusammen mit dem Teenager Karim, der den zwei Frauen viel zu verdanken hat, kommen Delphine dem Unheil auf die Spur. 
Dieses Debut von Valerie Jakob gefällt mir sehr gut. Gekonnt mixt sie verschiedene Thematiken und schreibt daraus einen spannenden Ermittlungskrimi. 

Zum einen geht es um Freundschaften. Verschiedene Varianten davon sind im Buch zu finden. 
Freundschaft Nr. 1: die schlagfertige, toughe Delphine und die elegante, ältere Aurélie - wie die zwei Frauen sich genau kennen gelernt haben wird erst gegen Ende des Buches erzählt. 
Freundschaft Nr. 2: Delphine und Karim - er wird von ihr bei einem Einbruch überrascht und selbst für ihre Verhältnisse überraschend bietet sie ihm anstatt einer Anzeige einen vierwöchigen Hilfsdienst bei ihr an. In diesem Monat entsteht eine feine Freundschaft zwischen ihnen. 
Freundschaft Nr. 3: Karim und Aurélie - weil auch Aurélie in die Hilfsdienst-Aufträge eingebunden wird, fühlt sich Karim mit der Zeit auch mit ihr stark verbunden. 
Freundschaft Nr. 4: Aurélie und Richard - der ruhige, introvertierte Richard Lebrun, der seine eigenen Räume auf Les Balaines hat und die fast adlig daherkommende Aurélie scheinen so gar nicht zusammen zu passen. Lange scheint Richard dem Leser aus unbekannten Gründen geduldet und geachtet zu sein, aber das fast geschwisterhafte Verhältnis zwischen Aurélie und Richard ist viel tiefgründiger und tragischer, als auf den ersten Seiten noch angenommen. 

Weitere Freund- und Bekanntschaften - St. Julien ist nicht so gross, man kennt sich - ergeben sich durch Delphines Schulfreundin Cécile. Deren Neffe ist Kommissar Lucien Benazet, der schon bald mit seinem Vorbild Delphine zusammenarbeitet. Irène, eine weitere Freundin von Cécile, ist die Cousine von Bernard, den Delphine bei einem Tanzabend kennenlernt. Sie alle tragen ihren Teil zur Lösung des Falles bei. 

In "Hôtel Atlantique" geht es aber auch um ein weniger freundliches Thema, ein Stück Zeitgeschichte, über das kaum je geschrieben wurde: Frauen, die sich während dem Krieg in Gegner verliebten, wurden nach Kriegsende aufs Schlimmste beschimpft und ausgestossen. Solch eine tragische Geschichte hat die Autorin bedacht auf die Buchseiten gebracht und sorgfältig umgesetzt. 

So ist dieser Krimi auch für Nichtkrimifans interessant. Er lebt ausserdem von humorvollen, ironischen und sarkastischen Wortwechseln. Besonders Delphine, Karim und Bernard müssen diesbezüglich erwähnt werden. Es machte richtig Spass, ihre Dialoge zu verfolgen. 
Die Beschreibung der Charaktere und ihre Handlungen fand ich gelungen, wie beispielsweise die feinsinnige Schilderung von Richard beim Parfumkauf.

Auch die Landschaft und die Eigenheiten der Region und ihrer Bevölkerung hat die Autorin anschaulich beschrieben und viele französische Redewendungen eingeflochten. 
Ich kann mir aber vorstellen, dass einige Leser ein Verständnisproblem damit haben. Für uns Schweizer ist das kein Problem; und zur Beruhigung kann ich sagen, dass die Redewendungen sowie die baskischen Zitate immer übersetzt werden. Aber für sprachlich nicht interessierte Leser könnte der Lesefluss durch die fremdsprachlichen Einschübe beeinträchtigt werden. 

Mich hat vielmehr gestört, dass alles Französische klein geschrieben wurde. "Quartier" zum Beispiel. Es las sich jedesmal wie ein Rechtschreibfehler, bis ich merkte, dass es System hat. Doch das Wort "Quartier" ist kein französisches Wort (Latein lässt grüssen), also hätte man es, ebenso wie all die französischen Wörter, normal schreiben können. Die Kleinschreibung lenkt ab und ist unnötig. 

Aber bis auf die Sache mit der Kleinschreibung ist "Hôtel Atlantique" ein gelungener und anschaulich erzählter Kriminalroman. Ein Buch mit Protagonisten, an die man auch nach Abschluss der Lektüre öfters denkt und wissen möchte, wie es ihnen wohl gerade geht. 
Fazit: Ein tragisches Kapitel der Kriegsgeschichte in einem Kriminalroman aufgearbeitet. Empfehlenswerte und spannende Lektüre mit interessanten Protagonisten.
4.5 Punkte.