Rezension

Tolles, teilweise unheimliches Schauermärchen - eher ab 12 Jahren geeignet

Nacht über Frost Hollow Hall - Emma Carroll

Nacht über Frost Hollow Hall
von Emma Carroll

Bewertet mit 4 Sternen

Bei der Altersempfehlung ab 10 Jahren waren einige Leser skeptisch. Als Richtwert sagt man, das Alter der Leser sollte in etwa dem der Protagonisten entsprechen - und da wäre man mit 12 Jahren auf der sicheren Seite. Im Zweifelsfall muss man - wie immer - individuell entscheiden, wieviel Spannung das eigene Kind verträgt. Meiner Meinung nach geschieht hier nichts, was für ältere (!) Kinder nicht zumutbar wäre. Noch dazu löst Emma Carroll am Ende alle Handlungsfäden auf eine sehr versöhnliche Weise auf.

„Nacht über Frost Hollow Hall“ ist Geschichtsstunde und Geisterbuch in einem: 1881 war nicht nur der Winter rau, sondern auch das Leben und nicht selten der Ton. Der Alltag der 12jägrigen Tilly ist von harter Arbeit und Armut geprägt. Umso mehr, seit der Vater vor kurzem verschwunden ist und Tilly mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Eliza alleine über die Runden kommen muss. Als sie das Angebot erhält, als Dienstmädchen auf dem abgelegenen Landsitz Frost Hollow Hall zu arbeiten, nimmt sie begeistert an. Es lockt nicht nur die Aussicht auf eine gute Bezahlung, sondern auch das Rätsel um den vor zehn Jahren ertrunkenen jungen Lord Barrington, der Tilly seit einem Unfall nachts in ihren Träumen erscheint. Im Haus trifft Tilly jedoch auf eine Barriere des Schweigens und der Angst.

Hinter einer Geistererscheinung steht immer ein ungelöstes Geheimnis. Und so verlegt sich Emma Carroll nicht auf bloße Effekte, sondern bindet den Spuk in eine tragische Familiengeschichte ein, in der Verlustangst und Trauer eine Rolle spielen. Das verleiht dem Plot Tiefe, ist aber für jüngere Leser eventuell emotional herausfordernd, auch wenn immer wieder muntere Passagen folgen und Tillys Nachforschungen im Vordergrund stehen.

Sprachlich ist die Geschichte durchweg altersgerecht. Emma Carroll schreibt leicht verständlich und Tillys Ton entspricht dem einer 12jährigen, die zum Teil noch ungestümes Kind ist, mit einem Fuss aber schon auf der Schwelle zur Jugend steht und beispielsweise beginnt, sich für Jungs zu interessieren. Dass Tilly in einigen Dingen, etwa Geld- und Arbeitsfragen, einen reifen Eindruck macht, steht für mich im Einklang mit den historischen Gegebenheiten, die authentisch - heißt: nicht verklärend - rüber kommen.

Die Charaktere, die Tilly durch die Geschichte begleiten, sind zum Teil sympathisch und herzlich, zum Teil distanziert, undurchsichtig und streng. Tilly begegnet den Bewohnern von Frost Hollow Hall jedoch äußerst tapfer und couragiert und bewahrt sogar auf unheimlichen dunklen Treppen und im einsamen, frostweißen Wald einen kühlen Kopf. Es fiel mir sehr leicht, mich auf die Figur einzulassen und mich gemeinsam mit ihr auf Spurensuche zu begeben.

Emma Carroll hat mir einige sehr spannende Lesestunden beschert. Hier und da hätte man vielleicht besser abrunden können. Die Nebenhandlung um Tillys verschwundenen Vater kommt insgesamt etwas kurz, hätte aus meiner Sicht aber auch Stoff für ein eigenes Buch geboten. Letztlich wird hier auf die reale historische Gegebenheit der Armutsflucht Bezug genommen, ich bezweifle aber, dass Kinder die Hinter- und Beweggründe wirklich ganz durchschauen können. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft kleine Längen im Mittelteil: Hier kommt Tilly mit ihren Nachforschungen etwas langsam voran. Trotzdem war das Buch für mich weit von Langeweile entfernt: Die unheimliche, düstere Atmosphäre im alten Herrenhaus, das seltsame Verhalten seiner Bewohner und deren beharrliches, bedrückendes Schweigen ließ bei mir - im Gegenteil - viel Vorfreude auf Halloween und die dunkle Jahreszeit aufkommen.

Fazit: Eine traurige, schaurige und trotzdem auch schöne Geschichte über ruhelose Geister und die ungute Macht des Schweigens. Mit viel atmosphärischem Grusel, aber kleinen Längen und Kanten. Die Altersempfehlung könnte man gut und gerne zwei Jahre anheben.