Rezension

Treibgut in einer fremden Stadt

Das Mädchen mit dem Fingerhut - Michael Köhlmeier

Das Mädchen mit dem Fingerhut
von Michael Köhlmeier

Dem Mädchen, das in der fremden Stadt verloren geht, möchte man die Hand reichen. Dass es sie nicht nehmen kann, zerreißt einem das Herz.

Ein sechsjähriges, elternloses Mädchen geht in einer fremden Stadt verloren. Es kann sich niemandem mitteilen, denn es spricht eine unbekannte Sprache. Bei winterlichen Minusgraden beginnt es seinen Überlebenskampf. Menschen und Instutionen helfen, doch immer wieder kommt es zu Trennungen und Neuanfängen. 

 

Michael Köhlmeier setzt in diesem Roman einen exzessiv schlichten Schreibstil ein. Er baut Sätze, die beinahe vollständig auf Verschachtelungen verzichten. Wiederholungen werden keineswegs vermieden, man fühlt sich an eine Schulfibel für Erstklässler erinnert. Absolut konsequent wird auf Erwähnung von all dem verzichtet, was noch außerhalb des Erfahrungshorizonts seiner kleinen Protagonistin liegt. Ebenso sind die Beschreibungen dessen, was ihr zustößt, reduziert auf das, was ein Kind entsprechenden Alters in dieser Situation tatsächlich empfinden könnte. Es geht um die Primärbedürfnisse Hunger, Durst, Müdigkeit und dem Wunsch nach Wärme. Um mehr sorgt sich das Kind vorerst nicht. 

Ohnmacht wird spürbar, weil Helfen nicht möglich ist. Der Leser darf nur begleiten, nur zuschauen, muss ganz ohne Erklärung mit einem Kind leiden, das er an die Hand nehmen, füttern und wärmen möchte. Das ist nicht leicht.

Durchaus gibt es immer wieder Situationen, die hoffen lassen, doch schon entzieht sich das Kind der Einflussnahme, der Erziehung, auch der Hilfe und begibt sich scheinbar plan- und ziellos auf den Weg. Dabei ist es nicht immer allein, es findet Weggefährten, denen es sich anschließt, auch Erwachsene, doch bleibt es Treibgut, ohne Sprache, ohne Heimat, ohne Zugehörigkeit. 

So wie Verständigung nicht zustande kommt, fehlt emotionale Verbundenheit. Geborgenheit findet statt, aber auf niedrigem Niveau. Zukunft liegt dort, wo auch die Vergangenheit bleibt: Im Ungewissen.

Zufällig ist dem Autor ein Blick auf ein Thema geglückt, das angesichts endloser Flüchtlingsströme aktueller nicht sein könnte: So wie Yiza fühlen sich derzeit sicher unzählige Kinder, die irgendwo im Unterwegs verloren gegangen sind.