Rezension

Trommelwirbel und zersungene Gläser gegen das Vergessen

Die Blechtrommel - Günter Grass

Die Blechtrommel
von Günter Grass

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Es war einmal ein leichtgläubiges Volk, das glaubte an den Weihnachtsmann, aber der Weihnachtsmann war in Wirklichkeit der Gasmann.“

Oskar Matzerath bringt während seines Aufenthalts in einer Heil- und Pflegeanstalt sein Leben zu Papier. Rückblickend erzählt er mehrere Geschichten, arbeitet sich penibel durch die Familienchronik, beginnend mit der Zeugung seiner Mutter 1899. Er selbst erblickt das Licht der Welt 1918 als geistig bereits fertig entwickelter Säugling und beschließt als Dreijähriger, sein körperliches Wachstum einzustellen und fortan mithilfe einer Blechtrommel sein Leben zu beschreiten, um nicht wie die Erwachsenen zu werden und somit gegen die Spießbürgerlichkeit zu protestieren.

"Ich gehörte zu den hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur noch bestätigen muss."

So bleibt er der im Körper eines Kleinkindes Steckende und entdeckt außerdem seine Gabe, Glas zerschreien zu können. Dem Leser werden nicht nur Einblicke in das kleinbürgerliche Leben gewährt, sondern ebenso in die Zeit des Dritten Reichs aus dem Blickwinkel eines blauäugigen Kindes (Doppeldeutigkeit gewollt).

„Während die Geschichte lauthals Sondermeldungen verkündend wie ein gutgeschmiertes Gefährt Europas Straßen, Wasserwege und Lüfte befuhr, durchschwamm und fliegend eroberte, liefen meine Geschäfte, die sich ja nur auf das bloße Zertrommeln gelackter Kinderbleche beschränkten, schlecht, zögernd, überhaupt nicht mehr. Während die anderen mit teurem Metall verschwenderisch um sich warfen, ging mir wieder einmal das Blech aus.“

Jahrelang schlich ich um diesen Roman, dieses bedeutsame Werk der deutschen Nachkriegsliteratur, herum und beäugte es mit hochgezogener Augenbraue: Soll ich, soll ich nicht. Im Nachhinein kann ich meine gänzlich unbegründete Scheu ob des Hybrids, der viele Genres, wie Schelmen-, Entwicklungs-, Zeit- und historischer Roman, vereint, nicht mehr greifen, da ich die Lektüre nach Beendigung keinesfalls bereue.

Der Roman spielt sich auf zwei Zeitschienen ab: Einerseits begleitet der Leser Oskar beim Schreiben seine Autobiographie im Hier und Jetzt und andererseits in jener Zeit, von der er zu berichten weiß. Spannend ist hier die ungewöhnliche Erzählperspektive, da der Protagonist sowohl in der ersten als auch in der dritten Person von sich spricht. Der fließende Wechsel findet manchmal sogar innerhalb eines Satzes statt und kommt u.a. mit auktoriale Züge daher: "Niemand hätte vom Strand aus sehen können, wie Greff das Fahrrad ablegte [...] Fragen sie mich bitte nicht, woher ich das weiß, Oskar wußte damals so ziemlich alles [...]"

Dieses Buch lebt und wirkt dank des (meiner Meinung nach) genialen und wohlklingenden Schreibstils; Grass' umfangreicher Wortschatz samt Fabulierkunst scheint unermesslich zu sein, weswegen ich wahrlich meinen Hut ziehen muss. Seine größtenteils langen und verschachtelten Sätze bzw. Hypotaxen, die von detaillierten Beschreibungen, Wort- und Assoziationskaskaden, innovativen Bildern und wunderbaren Neologismen gespickt sind, weisen eine unglaublich gute und flüssige Leserlichkeit auf. Grass schreibt hierbei oftmals recht ausufernd, was gewiss nicht jedermanns Geschmack ist. Zusätzlich dazu bedient sich Grass der Collagetechnik und innerhalb eines Kapitels sogar theaterähnlichen Dialogen. Allein schon der Erzählstil und Grass' Sprache ist Grund genug, um dieses Buch zur Hand zu nehmen, wie ich finde. Für mich stellte es ein hochliterarisches Erlebnis dar, welches ich nicht mehr missen möchte.

„Mein weißlackiertes metallenes Anstaltsbett ist also ein Maßstab. Mir ist es sogar mehr: Mein Bett ist das endlich erreichte Ziel, mein Trost ist es und könnte mein Glaube werden, wenn mir die Anstaltsleitung erlaubte, einige Änderungen vorzunehmen: Das Bettgitter möchte ich erhöhen lassen, damit mir niemand mehr zu nahe tritt. Einmal die Woche unterbricht ein Besuchstag meine zwischen weißen Metallstäben geflochtene Stille. Dann kommen sie, die mich retten wollen, denen es Spaß macht, mich zu lieben, die sich in mir schätzen, achten und kennenlernen möchten. Wie blind, nervös, wie unerzogen sie doch sind. “

Obgleich Grass sehr detailliert schreibt, reicht er dem Leser nicht alles auf dem Präsentierteller, sondern lässt viel Raum für Spekulationen und Interpretationen zu, da der Protagonist zwar schildert, was und wie er etwas macht, aber nicht immer seine Gründe nennt. Außerdem sind viele Parallele, die zum Dritten Reich gezogen werden können, an Oskars Lebensweg erkennbar, die jedoch selbst gefunden und gedeutet werden müssen, was mir gut gefiel. Grundsätzlich muss erwähnt werden, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf grotesk verformte Art und Weise stattfindet und eher mit einem Blick auf Einzelschicksale beleuchtet wird. Außerdem spielt der Roman mit etlichen biblischen Motiven, die passend in die Handlung und Deutungsebenen eingebaut sind. Den poetischen Textstellen stehen grausame und ekelerregende Szenen gegenüber, bei denen mir manchmal wahrlich übel wurde; zum Glück werden diese gelegentlich von parodistischen Sätzen wieder aufgelockert, die mich wiederum zum Lachen brachten, wie beispielsweise: „Ohne die Finten und Täuschungsmanöver Oskars aufzählen zu wollen, sei hier kurz festgestellt: Sie fanden Oskar nicht, weil sie Oskar nicht gewachsen waren.“

Selten kam mir ein solch unsympathischer und gleichzeitig faszinierender Protagonist unter, den ich dennoch manchmal gut verstehen konnte. Oskar, der Sonderling, der ewig Unangepasste, sowie Neinsager und Totalverweigerer, zähle ich mittlerweile zu den interessantesten Figuren, die mir in Buchform begegneten. Gerade die Perspektive, die Oskar als äußerlich Dreijähriger einnimmt, ist gut gewählt, da er dank seines wachen Verstandes (an dem ich stellenweise sehr zweifelte) die Möglichkeit erhält, die Welt der Erwachsenen von unten und somit mit Distanz betrachten zu können, was die Besonderheit dieses Romans ausmacht.

“Es ist aber das Verhältnis der Erwachsenen zu ihren Uhren höchst sonderbar. […] Dabei ist die Uhr vielleicht die großartigste Leistung der Erwachsenen. Aber wie es nun einmal ist: Im selben Maß, wie die Erwachsenen Schöpfer sein können und bei Fleiß, Ehrgeiz und einigem Glück auch sind, werden sie gleich nach der Schöpfung Geschöpfe ihrer eigenen epochemachenden Erfindungen.”

Ein weiteres großes Thema stellt natürlich die Nachkriegszeit und die damit einhergehende Schuldfrage samt Verdrängung dar. Zum Verständnis meines Kritikpunkts muss ich noch hinzufügen, dass der Roman in drei Teile daherkommt. Während die ersten zwei Teile von der Zeitspanne bis zum Ende des zweiten Weltkriegs berichten, folgt im dritten Teil die Nachkriegszeit samt des Wirtschaftswunders. Meiner Meinung nach hätte der Roman nach dem zweiten Teil enden sollen. Obgleich auch hier kluge Sätze und wichtige Reflexionen zu finden sind, fehlte mir hier die Kraft, die nicht nur Gläser, sondern auch die Sprachlosigkeit zerspringen lässt, der vorherigen Teile. Dies ist mein einziger Kritikpunkt, der mich leider, leider dazu veranlasst, dem grandiosen Buch nicht die volle Punktzahl geben zu können. Schade.

„Heute, da ich das hinter mir habe und weiß, daß ein Nachkriegsrausch eben doch nur ein Rausch ist und einen Kater mit sich führt, der unaufhörlich miauend heute schon alles zur Historie erklärt, was uns gestern noch frisch und blutig als Tat oder Untat von der Hand ging, [...]“

Abschließend möchte ich sagen, dass mich der Roman - eingeklemmt zwischen Ekel und Faszination - sprachlos zurückließ. Nun verstehe ich, weshalb Grass' berühmtester Roman entweder auf überschwänglichen Lob oder auf Empörung stieß – ich schließe mich (mit Abstrichen) der Zustimmung an und möchte dieses Buch jedem empfehlen, der nicht nur ein Panorama über das damalige Danzig (die Farben der Blechtrommel sind gewiss nicht zufällig rot und weiß gewählt) vor Augen gestellt haben, sondern auch ein wortstarkes und kluges Werk mit interessanter Perspektive lesen möchte.

„Auf Friedhöfen kann man Mut und Entschlüsse fassen, auf Friedhöfen erst bekommt das Leben Umrisse – ich meine nicht Grabeinfassungen – und wenn man will, einen Sinn.“