Rezension

Überall herrscht Krieg, die ganze Zeit, in jedem von uns

Die Zeit der Ruhelosen - Karine Tuil

Die Zeit der Ruhelosen
von Karine Tuil

Bewertet mit 3 Sternen

„Die Zeit der Ruhelosen“ lässt Karine Tuil mit dem Einsturz der Twin Towers in New York beginnen, einem markanten Moment der Zeitenwende, auf den der Krieg in Afghanistan folgt, im zweiten kapitel und geschrieben in der 2. Person. Ein starker, programmatischer Beginn, denn er markiert die Dimensionen der Zeitläufte, die Tuil ihrem Roman gewährt, und den erzählerischen Kontext, der auf die drei Protagonisten des Romans einwirkt. Dies sind der millionenschwere Unternehmer Francois Vély, der traumatisierte Afghanistanheimkehrer Romain Roller und der aus den elenden Banlieues von Paris stammende Jungpolitiker Osman Diboula, dessen Eltern von der Elfenbeinküste nach Frankreich eingewandert waren.

In drei sich am Ende kreuzenden Erzählsträngen verfolgen wir, wie die so unterschiedlichen Lebensläufe der drei Männer zerbersten: Francois Vély gerät durch einen Presseskandal ins gesellschaftliche und unternehmerische Abseits, bei dem ihm alle Handlungsmomente entgleiten. Ihm werden Rassismus, Sexismus und Ausbeutertum vorgeworfen und schließlich in einem Rückfall in mehrheitsfähigen Antisemitismus seine jüdischen Wurzeln (Vély <-> Levy) gegen ihn gewendet. Derweil zerbricht die Beziehung zu seiner Ehefrau Marion Decker, die wiederum eine Affäre mit dem Afghanistan-Heimkehrer Romain Roller beginnt. Dieser ist innerlich am Tod seiner Kameraden und Untergebenen zerbrochen und findet sich als Soldat im Zivilleben nicht mehr zurecht. Seine totale Entfremdung von dem, was ihm zuvor Familie und Zuhause gewesen ist, lässt ihn in stärkste Gefühle für die neue und vergangenheitslose Affäre ausbrechen. Er verdingt sich als Söldner bei einem privaten Sicherheitsunternehmen im Irak. Osman Diboula erlebt als engagierter Sozialarbeiter einen rasanten Aufstieg in die inneren Zirkel der politischen Macht Frankreichs: Er entflieht dem Elendsviertel und wird Berater des Präsidenten, fällt jedoch in Ungnade, weil er den Zorn des Einwanderersohns über die omnipräsenten rassistischen Ressentiments nicht unterdrücken kann. Vélys Skandal gibt ihm die Möglichkeit, erneut politisch Fuß zu fassen, indem er den antisemitistischen Mechanismus des öffentlichen Skandals anprangert. Die Romanhandlung kulminiert in einer Reise in den Irak, bei der in aller drei Leben erneut ein Wendepunkt eintritt.

Das verbindende Thema der drei Erzählstränge ist die Identität (S. 283): Wie kann man diese finden und bewahren angesichts der ruhelosen Zeit, die auf den Einzelnen mit Schicksalsschlägen einhämmert? „Überall herrscht Krieg, die ganze Zeit, in jedem von uns.“ (S. 333) Tuil führt vor, wie in kurzer Zeit in drei Leben fundamentale Identitätskrisen die Persönlichkeiten verändern, und lässt den Roman mit dem Fazit enden, dass dadurch ein Teil des Menschen für immer verloren gehe, nämlich „das, was von der Kindheit übrig geblieben war. Die Unbeschwertheit.“ (S. 499).

Aber stimmt das überhaupt?

Tuil versteht es, den Leser mit ihren ausholenden Handlungssträngen und den markanten Figuren zu packen und ihre Straße hinunterzuzerren. "Hinunterziehen" ist sowieso das Stichwort, denn die drei Männer (und der Leserf) erleben eine deprimierende Katastrophe nach der anderen. Und zwar in großen wie in kleinen Maßstäben. Es sind aber gerade die großen, die stutzig machen: Benötigt man tatsächlich 9/11, Afghanistan, Korruption, Rassismus, Antisemitismus und politische Bigotterie auf Präsidialebene, braucht es transatlantische Fusionsverhandlungen, KZ-Überlebende, den Irakkrieg, islamistische Entführungen, von Bomben zerfetzte französische Soldaten, den ganzen, vollständigen gesellschaftlichen Diskurs in Frankreich aus den letzten zehn Jahren? Tuil zitiert auf S. 484: „Proust spricht von dem nützlichen Unglück, das man in Literatur verwandeln kann.“ Man hat den Eindruck, dass die Autorin aus diesem Grund ein bisschen zu viel Unglück erfunden hat, um etwas zu erzählen, was größere Literaten mit kleineren Kalibern erledigen: nämlich darzustellen, dass man seiner Herkunft und seiner Identität nicht entfliehen kann.

Im Ganzen ist der Roman meines Erachtens zu groß geraten. Auf den ersten einhundert Seiten ist Tuil zudem erzählerisch unter ihrem später bewiesenen Niveau geblieben, indem sie eine Behauptung nach der anderen aneinanderreiht, um die Personen zu charakterisieren, statt sie handeln und sprechen zu lassen. Dieser Roman wird die Zeit nicht überdauern, seine Bedeutung ist ganz an die Aktualität der Gegenwart (in Frankreich) gekoppelt. Darum sollte man ihn jetzt lesen, dann immerhin lohnt es sich.