Rezension

Überraschend schön, atmosphärisch und geschichtlich interessant!

Die Frau, die allen davonrannte
von Carrie Snyder

Bewertet mit 4.5 Sternen

Aganetha Smart war das erste kanadische „Goldmädel“ in der 800Meter-Laufdisziplin bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam. Wohlgemerkt – sie ist in diesem Roman ein fiktiver Charakter, die geschichtlichen Ereignisse allerdings sind real. In jenem Jahr durften erstmals Frauen an Olympischen Spielen teilnehmen. Die in diesem Roman ebenfalls auftretende Betreuerin des damaligen kanadischen Frauen-Teams – Alexandrine Gibb – gab es wirklich. Aganetha „Aggie“ Smart steht im Roman stellvertretend für diese starken und besonderen Frauen in einer noch männerdominierenden Zeit. Ihre 104-Jahre lange Geschichte wird nun also erzählt und enthüllt dem Leser Stück für Stück, warum Aggie immer schon laufen wollte und musste & wovor sie ihr Leben lang davonlief…

"Ich habe mich in der Vertrautheit von Schmerz verloren. […] ist ein Ausloten von Extrembereichen, ist mit dem Gefühl verbunden, über den Schmerz das eigene physische Selbst zu verlassen.[...] Man gibt, was man irgend kann. Das kann mehr sein, als man weiß, und wie viel es genau ist, erfährt man nur, indem man frontal gegen die eigenen Toleranzgrenzen knallt. Das ist einfacher, wenn man erst einmal akzeptiert hat, was passieren muss. Wenn man sich keine Gedanken mehr darüber macht, wie man nach außen hin wirkt oder wer man ist, sondern einfach nur ist." (S.334)

Aggie ist 104 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim, als sie plötzlich Besuch von 2 jungen Leuten bekommt, die sie nie gesehen hat. Diese Beiden sind aber sehr freundlich und nehmen Aggie in ihrem Rollstuhl mit auf einen Ausflug. Währenddessen wundert sich Aggie einerseits, andererseits kann sie nicht viel ausrichten – zu alt und schwach ist sie inzwischen, ihr Gedächtnis lässt nach und das Sprechen fällt ihr unglaublich schwer. Aber immer wieder gibt es kleine Situationen, die Aggies Gedanken in frühere Zeiten zurückwandern lassen und so erfahren wir als Leser aus ihrer Vergangenheit. Diese Rückblicke sind keineswegs chronologisch aufgebaut (was den einen oder anderen eventuell irritieren kann) – sie sind vielmehr Gedankensprünge und Erinnerungen quer durch die Vergangenheit, die wie Lichtblitze plötzlich auftauchen. Dennoch ist es mir nie schwergefallen mich zurechtzufinden. Sehr schnell habe ich gewusst, wann und wo ich mich befinde. Auch ein Stammbaum der großen Familie Smart zu Beginn des Buches kann hierbei helfen.

Die Autorin erzählt in einer sehr fließenden und wunderbar bildhaften Sprache das sehr bewegte Leben der Aggie Smart. Viele Schicksalsschläge – schon in jungen Jahren, zu Kriegszeiten und Zeiten mit unzureichender medizinischer Versorgung – haben sie geprägt. Das Laufen ist ihr Ventil. Und trotz ihres großen Erfolges im Jahr 1928 hat Aggie es weiterhin nicht leicht gehabt – als Frau. Besonders gefallen hat mir, wie die Autorin hier und da mit wenigen Worten eine besondere Atmosphäre zaubert, die Worte so bildhaft gewählt, dass ich genau weiß, was sie meint.

"Ich erkenne, dass wir verschiedene Sprachen sprechen, mein Vater und ich. Vielleicht wollen wir ja dasselbe sagen, aber in die Luft zwischen uns buchstabiert, sieht es so verschieden aus, dass wir einander nicht trösten können." (S.98)

Schön auch und sehr interessant, was über die Trainingszeit und Wettkämpfe dieser ersten Frauenmannschaft geschildert wird – welch aufregende Zeit muss das gewesen sein! Der Schluss – und das ist dann der Bogen in die Gegenwart- stimmt trotz vieler schwermütiger Momente in dieser Lebensgeschichte sehr versöhnlich.

Fazit: Ein überraschend schöner, geschichtlich interessanter und ein wenig schwermütiger Roman. Mich persönlich hat er sehr gefesselt und berührt – besonders aufgrund der schönen, atmosphärischen Schreibe von Carrie Snyder (auch ein Dank an die Übersetzerin an dieser Stelle!). Empfehlenswert!

Kommentare

Bücherteufelchen7000 kommentierte am 26. Juli 2016 um 10:12

Sehr schöne Rezi, liebe naibenak! Das Wesentliche klar herausgestellt und sehr passende Akzente (nebst passenden Textstellen) gesetzt. Ich fühle mich sehr gut informiert und bin gespannt, dieses Buch zu lesen! Liebe Grüße, Teufeli

Naibenak kommentierte am 27. Juli 2016 um 09:32

Danke liebes Teufli :) Wenn ich mir so die anderen Rezis zum Buch ansehe, denke ich, ich hätte noch viiieeel mehr schreiben können - echt verrückt ;) Ein wirklich schönes Buch, mit ganz vielen Denkanstößen und Luft zur Interpretation... <3

LySch kommentierte am 07. Juli 2017 um 14:34

Oh Bi! :) Habe gerade gesehen, dass du ja auch eine Rezi zu diesem Buch geschrieben hast! *grins* Wie schööön! Das hatte ich auch schon oft vor Augen und wollte es mir tauschen oder zulegen, war mir aber nicht sicher, ob es wirklich was für mich ist... Aber wenn es dir so gut gefällt, könnte das was werden mit mir und dem Buch! (Jaaa, ich weiß - wir lagen bei den Bienen auseinander ;)) Aber man kann es ja nochmals versuchen *grins*)

Naibenak kommentierte am 07. Juli 2017 um 18:35

Lydi, oh ja! Das ist ein sehr schönes Buch! Ich hab es gerade verliehen, aber wenn du magst, leihe ich es dir, sobald es zurück ist ;-)

LySch kommentierte am 07. Juli 2017 um 20:05

Vielen lieben Dank für das Angebot! :) Aber nur kein Stress damit! ;) Hab in den letzten Tagen meine Büchersammlung ordentlich durchgemischt - viele Wunschbücher sind dazugekommen, dafür wurden "alte" (alt = mein alter Buchgeschmack :D) aussortiert... Von demher ist mein SuB gerade überirdisch hoch für meine Verhältnisse :D Aaaber es ist schön zu wissen, dass du dieses Buch hast und ich es mir gerne ausleihen kann <3 :-*

Sursulapitschi kommentierte am 07. Juli 2017 um 19:37

Wunderbare Rezi. Die macht extrem Lust auf dieses Buch. Es liegt unbeachtet auf meinem SuB und bekommt sofort einen Prioritätenvermerk.