Rezension

Unerklärliche Phänomene und eine schicksalsträchtige Geschichte

Der Besucher
von Sarah Waters

Bewertet mit 5 Sternen

Einst waren die Ayres eine hochangesehene Familie mit Tradition und ihr herrschaftliches Anwesen, Hundreds Hall, Blickpunkt der Englischen Gesellschaft. Doch die Bewunderung schwindet, während der Inbegriff eines prächtigen Landsitzes dem unwiederbringlichen Verfall ausgesetzt ist. Die Zeichen der Zeit und nicht zuletzt der Zweite Weltkrieg haben deutliche Spuren hinterlassen. Dreißig Jahre nach seinem ersten Besuch, Faraday ist inzwischen Arzt und teilt sich mit Dr. Graham eine Praxis, betritt er erneut das imposante Gemäuer. Doch er ist enttäuscht, um nicht zu sagen entsetzt, in welchem Maße der Glanz der Heiligen Hallen Schaden gelitten hat. Verwahrlosung und Zerstörung, Kälte und Dunkelheit, längst vergangener Reichtum und bedrückende Stille dominieren das Bild.
Mit einem Hausbesuch des Arztes Dr. Faraday bei einer Angestellten der Ayres auf Hundreds Hall beginnt Sarah Waters ihren Bestseller DER BESUCHER, schwelgt in Erinnerungen an Vergangenes und vergleicht mit wenig erbaulicher Gegenwart.
Das 1733 fertig gestellte Hundreds Hall ist nunmehr ein Schatten seiner selbst. Die Musik im Tanzsaal ist verstummt, Silber, Gemälde und wertvolle Antiquitäten längst veräußert, Luxus und Ruhm verloren.
Viele Details vermitteln ein authentisches Bild von Personen und Umgebung. In leisen Tönen schwingen Atmosphäre und Emotionen der Nachkriegszeit.
Mrs. Ayres wahrt als Dame des Hauses Eleganz und Anmut. Ihre Kinder Roderick und Caroline tun ihr Möglichstes, das Anwesen zu erhalten.
Caroline weiß anzupacken. Sie ist unkompliziert und aufrichtig.
Roderick gibt sich redlich Mühe, den Hausherrn zu ersetzen. Er arbeitet sehr viel, hat jedoch wenig Gespür für die Landwirtschaft. Wie viele Jungen seiner Generation, musste Rod viel zu schnell erwachsen werden. Seine Aufgaben überfordern ihn bisweilen. Ein Unfall bei der Royal Air Force führte zu einer schweren Kriegsverletzung und einem nervlichen Problem.
Es ergab sich, dass Dr. Faraday ihn als regelmäßigen Patienten gewann. Die sonntägliche Behandlung des Beines wurde zur Gewohnheit, Tee im Kreise der Familie inklusive. Man lernte einander kennen und schätzen. So war Faraday ebenfalls anwesend, als Hundreds Hall zu einem feierlichen Stelldichein ludt, das durch ein wahrlich unschönes Ereignis ein jähes Ende fand. Gyp, der treue und stets freundliche Familienhund der Ayres, biss das kleine Mädchen der Baker-Hydes ins Gesicht. Die Anwesenden waren allesamt schockiert, die Ayres untröstlich, die Baker-Hydes hochgradig empört. In all ihrer Wut und Verzweiflung verlangten sie folglich den Tod des Tieres.
Jener Abend schien jedoch nicht nur das Ende eines Hundelebens, sondern zudem den Beginn seltsamer Vorkommnisse auf Hundreds Hall einzuläuten.
Mit der düsteren, kargen und kalten Winteratmosphäre in und um das Gemäuer legt die Autorin die passende Grundlage für allerlei Spuk. Hier ein Schatten, dort mysteriöse Geräusche und noch dazu unerklärliche Phänomene rufen nicht nur bei den Figuren des Romans Erstaunen und Unbehagen hervor. Mit deutlicher Gänsehaut folgt der Leser gebannt der Erzählung. Die Spannung steigt bisweilen enorm.
Dr. Faraday glaubt bei Rods Worten, das unglaubliche Geschehen zu umschreiben, an ein verzögertes Kriegstrauma, ausgelöst durch Erschöpfung und überstrapazierte Nerven. Doch lassen sich die Ereignisse wirklich so einfach mit bloßen Sinnestäuschungen erklären?
Als sich weitere ominöse Ereignisse einstellen und schließlich eine Feuerkatastrophe in letzter Minute abgewendet werden kann, halten es alle für sinnvoll, Roderick in die Obhut Dr. Warrens zu übergeben. Ein Klinikaufenthalt wird aller Hoffnung nach die Wahnvorstellungen vom Bösen, das in Hundreds Hall sein Unwesen treibe, kurieren ...
Zunächst scheint Ruhe auf dem Herrensitz einzukehren. Dr. Faraday und Caroline finden zueinander und auch Mrs. Ayres blüht wieder auf.
Bis ominöse Geräusche und kindliche Kritzeleien auf Holzverkleidungen die Gemüter erregen und den Weg für weit Schlimmeres ebnen ...

Die Erzählung aus Sicht des Dr. Faraday, in erster Person Singular verfasst und nicht auf Kenntnisse seiner persönlichen Beteiligung beschränkt, erstreckt sich auf fünfzehn großzügig ausgelegte Kapitel.
Stil und Sprache erfassen den Flair einer längst vergangenen Epoche. Gesellschaftliche und politische Umschwünge jener Zeit vermittelt Sarah Waters ebenso souverän wie Schauplätze und Personen.
Die Autorin pirscht sich in langsamen Schritten an das Grauen dieser Geschichte heran. Nach Tradition des viktorianischen Schauerromans, ganz wie es der Klappentext verspricht, entwickeln sich Atmosphäre und Ereignisse, spiegeln Emotionen wider und nehmen den Leser für sich ein.
Das Schicksal der Familie Ayres beugt sich einer stets präsenten Melancholie. Der Grundtenor des Romans wirkt recht düster.
Dramatische Begebenheiten rufen mannigfaltige Spekulationen hervor. Sarah Waters spielt mit der Psyche ihrer Akteure und bewegt sich indifferent zwischen Wissenschaft und Aberglaube.
Die Interpretation der Ereignisse obliegt schlussendlich dem Leser.

DER BESUCHER erscheint in gebundener Form mit Schutzumschlag und Lesebändchen bei Lübbe Ehrenwirth. Sowohl Einband als auch Umschlag sind mit viel Liebe zum Detail gestaltet und erfreuen zweifelsohne jedes Leserherz. Papier, Satz und Druck sind einwandfrei.

Fazit: Sarah Waters kann es mühelos mit Klassikern dieses Genres aufnehmen!
DER BESUCHER überzeugt mit Mehrdeutigkeit, dichter Atmosphäre, intensiven Emotionen und subtilem Grauen. Unerklärliche Phänomene fesseln den Leser ebenso wie die schicksalsträchtige Geschichte einer Adelsfamilie, die so oder so dem Untergang geweiht scheint.
Der hervorragende Schreibstil und die stets angepasste Sprache machen die Lektüre zu einem schaurigen Genuss.