Rezension

Unfassbar bewegend!

Sommer unter schwarzen Flügeln - Peer Martin

Sommer unter schwarzen Flügeln
von Peer Martin

Bewertet mit 5 Sternen

Meine Meinung:

Nura und Calvin - Ein tragisches Paar in einer tragischen Welt

„Sommer unter schwarzen Flügeln“ ist eins der Bücher, zu dem mir eine Rezension wahrlich nicht leicht fällt. Wo soll ich nur die Worte her nehmen, die dieser Geschichte auch nur ansatzweise gerecht werden könnten? Aber nichts zu schreiben, wäre sicherlich die falscheste Lösung, falls es für falsch überhaupt eine Steigerung gibt.
Die einfachste Möglichkeit wäre vielleicht, an jede Litfaßsäule, in jedes Schaufenster, an jede Plakatwand und an jeden öffentlichen Ort: „DIESES BUCH SOLLTE JEDER LESEN“ zu schreiben. Oder es laut rauszubrüllen.

—-„Ist das geklaut, wenn wir die Trauben essen?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Sind doch nur ein paar. Und eigentlich gehören die alle Gott. Der lässt sie wachsen, oder?“„Unserer oder eurer“, fragte Yassir. „Oder der von Anna?“„Mein Papa sagt, das ist der gleiche“, sagte ich.—- S. 19

Als Nuri und ihre Eltern in Deutschland angekommen sind, dachten sie wahrscheinlich, dass sie es jetzt endlich geschafft hätten. Geschafft, endlich in Sicherheit zu sein. Keine „syrischen“ Kämpfer im Nacken, die sie in ihrem eigenen Land verfolgen, ihnen nach dem Leben trachten. Keine Demütigungen, Unterdrückungen, Vertreibungen, Folter keine Erniedrigungen. Nuris Vater war schließlich schon mal in Deutschland - vor vielen Jahren hat er eine Weile in Köln studiert - er weiß, Deutschland ist ein schönes Land. Freundlich und friedlich. Dass es nicht immer und überall so ist, müssen sie nach kürzester Zeit feststellen.

—-MEHR SICHERHEIT FÜR DEUTSCHE IN DEUTSCHLAND! SCHLUSS MIT DER SYSTEMATISCHEN DULDUNG VON VERBRECHEN UND GEWALT DURCH AUSLÄNDER! —-  Flugblatt S.80

Calvin. Aufgewachsen im sogenannten Sozialen Brennpunkt. Rechtes Gedankengut wächst dort wie Springkraut. Sein Vater, LKW-Fahrer hat die Familie vor einigen Jahren verlassen, aber nicht ohne seine Rechte Saat zu hinterlassen. Der neue Mann an der Seite seiner Mutter und Vater seiner beiden jüngeren Brüder ist noch abwesender, obwohl er meistens anwesend ist. Die Mutter scheint sich irgendwie ins Nichts ergeben zu haben und beschäftigt sich überwiegend mit ihrem Kopfschmerz. Da ist es nicht wirklich verwunderlich, dass Calvin im Freundeskreis punkten möchte, was ihm auch sehr gut gelingt. Er soll demnächst der Anführer der kleinen nichtparteilichen „Kreisgemeinschaft“ werden und dafür sorgen, dass das Asylbewerberheim verschwindet.

---Hier also saßen sie, dachte Calvin, die treuen Ritter seiner Tafelrunde, auf ihren Plastikstühlen, vor einem Plastiktisch voll Zigarettenbrandwunden. --- S. 183

Nuri ist ein wunderbarer Charakter. Sie ist sensibel, freundlich, träumerisch, vorurteilsfrei, clever, äußerst stark und gleichermaßen verletzlich. 
Ihre Erzählungen, denen Calvin und auch wir Leser uns nicht entziehen können, in denen sie von ihrer Kindheit und ihrer Flucht in und aus Syrien berichtet, sind einerseits furchtbar brutal, aber auf eine gewisse Weise auch wunderschön, beinahe wildromantisch. Duftende Blumen und Gewürze, rauschende Flüsse, Weinreben die Dächer bauen, wilde Wüstenlandschaften und eine wärmende Sonne bahnen sich ihren Weg in unser Herz. Umso schmerzhafter sind dann die Passagen, die von Verrat, Folter, Zerstörung und unermüdlichem Hass im Namen verschiedener Religionen handeln. 
Jetzt könnte man annehmen, dass diese poetisch, romantischen Worte in dieser Erzählung nicht passen oder gar kitschig erscheinen könnten, aber das Gegenteil ist hier der Fall. Wenn man Dinge erlebt hat, wie Nuri sie erleben musste, braucht man zwischendurch einfach irgendetwas Schönes an dem man sich wenigstens ein bisschen festhalten kann. Vielleicht hat sie auch von ihrem Bruder gelernt.

—-„Ich war in den Kellern“, flüsterte ich. „Sie haben mir nicht gesagt, ob du da warst …“Nabil schüttelte langsam den Kopf. Die Wunde an seiner Stirn hatte angefangen, durch den Verband zu nässen.„Ich war nicht da“, sagte er. „Kleine Nura, ich war nicht da. Ich war in einem … schönen Land voller Olivenhaine und Weinfelder.“— S.390

Was mir auch immer sehr gut gefällt, wenn Autoren sich klammheimlich und ziemlich unscheinbar selbst ins Buch schreiben und sich somit darin ein Stück weit verewigen. So wie hier:
—-Der einzige Spaziergänger, den sie trafen, war ein Mann mit einem Golden Retriever, der nach Bernstein suchte.—- S.472 (der übrigens an anderer Stelle noch mal auftaucht)

Beim Oetinger Verlag findet man noch reichlich Material zum Buch. Für Schulklassen, oder einfach nur zum nochmal detailliert nachschauen und erinnern. Unglaublich, was da alles zusammengetragen und entworfen wurde. Da lohnt sich das Hinschauen wirklich.

Fazit:
Eine Geschichte, die aktueller nicht sein könnte. Brennende Dachstühle, ertrinkende Flüchtlinge und braune Brühe, die über die Straßen schwappt.
„Sommer unter schwarzen Flügeln“ muss man einfach gelesen haben. Ein Buch das aufrüttelt, empört, Wahrheiten verdeutlicht und unheimlich gefühlvoll daherkommt.