Rezension

Unglaubliche Sprachgewalt

Der Schatten des Windes
von Carlos Ruiz Zafón

Bewertet mit 4.5 Sternen

Daniel ist neun Jahre alt, als sein Vater ihm den Friedhof der Vergessenen Bücher zeigt, den Ort, an dem sich alle Bücher finden, die irgendwann einmal vergessen wurden. Daniel darf sich für ein Buch entscheiden und nimmt "Der Schatten des Windes" mit. Das Buch begeistert ihn von der ersten Seiten an, und so stellt er Nachforschungen zum Autor an. Dabei bemerkt er, dass die beiden viele Gemeinsamkeiten zu haben scheinen und sich ihre Schicksale überschneiden. Daniel ist nicht der einzige auf der Suche nach der Wahrheit. Er findet Weggefährten, aber auch Menschen, die ihm Steine in den Weg legen. 
"Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und erlebt und von ihnen geträumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedesmal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten läßt, wächst sein Geist und wird stark." Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes. S. 10.
Eigentlich würde nur dieses eine Zitat reichen, um jeden zum Lesen dieses Buches zu animieren. Der Schatten des Windes ist ein Appell ans Lesen. Es zeigt, was es mit einem machen kann, und das vor dem Hintergrund einer spannenden Familientragödie.
Protagonist Daniel ist eine liebenswürdige Figur, die von der Lektüre von Der Schatten des Windes völlig einvernahmt wird. Er sucht nach weiteren Büchern des Autors und als er erfährt, dass diese nicht existieren, befasst er sich mit der Geschichte. Diese Suche entwickelt sich zu einer Detektivgeschichte. Daniel erhält immer wieder Hinweise und kommt so ein Stück weiter. Die Vergangenheit ist so vielschichtig, dass dem Leser nicht unbedingt von Anfang an klar wird, was alles hinter dem Buch steckt. Es nimmt immer mehr Tiefen an und wird so nie langweilig, auch wenn es nicht gerade actiongeladen ist.
Wir Leser begleiten Daniel ein ganzes Stück seines Lebens.Wir werden mit ihm Entdecker des Friedhofs der Vergessenen Bücher, als er 9 Jahre alt ist, und erleben schließlich am Ende, wie er seinem späteren Sohn ebenfalls das Geheimnis im Herzen Barcelonas offenbart. Wir erleben also fast sämtliche Facetten seines Lebens, seien es die Höhen oder zahlreichen Tiefen.
"Ich konnte den Gedanken nicht verhindern, daß, wenn ich in der Unendlichkeit dieser Nekropolis rein zufällig in einem einzigen unbekannten Buch ein ganzes Universum entdeckt hätte, Zehntausende weitere unerforscht und für immer vergessen blieben. Ich spürte Millionen verlassener Seiten, herrenloser Welten und Seelen um mich herum, die in einem Ozean der Dunkelheit untergingen, während die außerhalb dieser Mauern pulsierende Welt Tag für Tag mehr die Erinnerung verlor, ohne es zu merken, und sich um so schlauer fühlte, je mehr sie vergaß." (S. 93)
Die Sprache Zafóns ist ein Traum. Zunächst einmal ist sie wunderbar atmosphärisch, sodass man unglaublich gut in das Barcelona der 50er-Jahre eintauchen kann. Dann haut er, wie an den Zitaten deutlich wird, immer wieder so schöne Sätze heraus, dass ich oft innehalten und zahlreiche Passagen erneut lesen musste, weil ich einfach so begeistert von der sprachlichen Vielfalt und Extravaganz war. Die Sprache tritt im Buch so deutlich hervor, dass sie einfach die ganze Zeit über präsent ist und fast schon zu einer Nebenfigur wird. 
"Es gibt schlimmere Gefängnisse als Worte" (S. 412) 
Alles in allem zählt also Der Schatten des Windes zu den Büchern, die man wie Schätze behandeln sollte. Eine ergreifende Geschichte verpackt in einer Sprache, die unglaublich schön ist. Jeder, der Bücher liebt, sollte mal einen Blick in diesen Roman hineinwerfen. Denn er thematisiert die Bücher und das Lesen und ist dabei einfach unglaublich gut!