Rezension

Unsterblicher Shakespeare

Hexensaat - Margaret Atwood

Hexensaat
von Margaret Atwood

Bewertet mit 5 Sternen

Das Hogarth Shakespeare Projekt wurde im Jahr 2016 anlässlich des 400sten Todestages des großen Dichters ins Leben gerufen und gibt namhaften Autoren die Möglichkeit, unterschiedliche Shakespeare-Stücke, die jeder frei wählen kann, neu zu interpretieren.

Die kanadische Autorin Margaret Atwood, der man schon lange den Literatur Nobelpreis wünscht, nimmt sich des Alterswerk des Barden "Der Sturm" an und bringt es dem Leser von heute auf ihre einzigartige, unnachahmliche Art nahe!

Wir begegnen Felix, einem ebenso leidenschaftlichen und begnadeten wie exzentrischen Theaterregisseur, der kurz vor der Aufführung des Stückes "Der Sturm" steht. Fulminant soll es werden, unvergesslich, etwas Nie-Dagewesenes, mit dem er seinen Ruhm festigen und in die Nachwelt eingehen möchte.
Doch es kommt nicht dazu! Felix fällt einer Intrige zum Opfer, verliert seinen Posten beim örtlichen Festival und geht, wie weiland Shakespeares Held Prospero, geschlagen und ohne Hoffnung in die Verbannung.
Alleine mit sich und seinen Geistern wartet er, - Tag für Tag, Jahr für Jahr. Worauf? Auf Vergeltung, auf Rache - auch hier bleibt Margaret Atwood auf Prosperos Spuren.
Gleichzeitig kämpft Felix darum, in der selbstgewählten Abgeschiedenheit nicht den Verstand zu verlieren; er folgt einem sich auferlegten strukturierten Tagesablauf und bleibt seinen Widersachern, die inzwischen dank des Verrats, den sie an ihm geübt hatten, Karriere gemacht haben, mit Hilfe des Computers, den er sich zulegt, auf den Fersen.
Schließlich bekommt er die Möglichkeit, die Stelle des Lehrers im Rahmen des Programms Bildung-durch-Literatur an einer nahegelegenen Justizvollzugsanstalt anzutreten. Er tut in dieser Funktion das, was er am besten kann: er versucht, den Häftlingen Shakespeare nahezubringen und mit ihnen einige seiner Stücke einzuüben und schließlich aufzuführen. Sehr zur Begeisterung der "Schauspieler"!
Er bleibt in Übung, könnte man fast sagen.

Und tatsächlich, nach zwölf langen Jahren, ergibt sich dank seiner Arbeit im Gefängnis - auch hier an Shakespeares Prospero angelehnt - die langersehnte Gelegenheit, seinen Feinden gegenüberzutreten und endlich seine Rache zu nehmen.
Als Mittel zum Zweck dient ihm SEIN Stück, "Der Sturm", das er damals nicht zur Aufführung bringen durfte! Und er selbst ist Prospero, der große Zauberer, der Fadenzieher im Hintergrund! Er wird seinen großen Auftritt haben! Wird sein klug ausgeklügelter Plan gelingen?

Die Handlung, die Margaret Atwood konzipiert, um ihre eigene Auffassung des Shakespeare-Stückes dem Leser zu vermitteln, fesselt diesen von Beginn an!
Atwood erweist sich einmal mehr als die großartige Erzählerin und Meisterin der Sprache als die sie bekannt ist und zu Recht gepriesen wird.
Ihrem Einfallsreichtum und ihrer Fabulierkunst sind scheinbar keine Grenzen gesetzt.
Und obwohl sie ein mehr als 400 Jahre altes Stück in die heutige Zeit transferiert, nimmt sie ihm nichts von seinem Zauber, nichts von seiner Faszination und Spannung. Im Gegenteil, möchte man fast sagen!
Denn es gelingt ihr, den "Sturm" für den Leser von heute an Reiz gewinnen, ihn mit Staunen feststellen zu lassen, wie aktuell das Geschehen um Prospero in seinem Exil auf der Insel, in dem vielfach das griechische Korfu vermutet wird, doch immer noch ist!

Grandios, wie die Kanadierin uns Shakespeare durch ihren Regisseur Felix und seine Schauspieltruppe in der Haftanstalt erklärt! Er gibt ihnen, im Hintergrund lenkend, die Möglichkeit, das Stück auf ihre eigene, erfrischende und immer originelle Art zu verstehen und auf der "Bühne" umzusetzen, wobei sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und Ausdrucksformen nutzen, Talente entfalten und so an Selbstvertrauen gewinnen können.
Ein genialer Pädagoge und genauer Kenner der menschlichen Natur ist Felix fürwahr! 

Selbst standhaft traditionelle Shakespeareanhänger und Kenner mögen das eine oder andere Mal verblüfft sein über die profunden, komplexen Gedanken, die sich die Schauspieler auf ihre unkonventionelle, ab und an sogar etwas naive Herangehensweise über das Stück an sich und seine Charaktere machen!
Für diejenigen unter den Lesern, die mit Shakespeare gar nicht oder kaum vertraut sind, mag "Hexensaat" ein Interesse an dem Barden aus Stratford-upon-Avon und seinen zeitlosen Stücken voller Tiefe und Weisheit wecken, das sie ihre Scheu vor dem großen Dramatiker verlieren lässt und ihnen vielleicht sogar Lust darauf macht, das eine oder andere Stück auf ihre Leseliste zu setzen.

Ich selbst habe den "Sturm" vor dem Beginn der Lektüre des vorliegenden Romans wieder-gelesen. Eine gute Entscheidung, wie ich schon bald feststellte, denn ich bin mir sicher, dass Margaret Atwoods "Hexensaat", eine Adaption eben dieses Stückes, um einiges besser verstanden und gewürdigt werden kann, wenn man das Original vor seinem geistigen Auge hat.
Man findet die wichtigsten Personen um Prospero im Roman wieder, ja, man erkennt sie nicht nur, sondern sieht sie gleichzeitig aus einem neuen, ungewohnten, höchst originellen Blickwinkel, was das Lesevergnügen steigert.
Als lebenslange Anhängerin des Barden empfand ich dennoch, oder gerade deswegen, die Lektüre von "Hexensaat" als enorme Bereicherung - und mehr als einmal wünschte ich mir dabei, dass Margaret Atwood sich weiterer Shakespeare-Stücke annehmen möge, um sie für den Leser des 21. Jahrhundert ebenso gekonnt aufzubereiten wie sie es mit dem "Sturm" bravourös unter Beweis gestellt hat!