Rezension

Vergiss dich, nimm dich nicht so wichtig, lös dich auf...

Außer sich - Sasha Marianna Salzmann

Außer sich
von Sasha Marianna Salzmann

Bewertet mit 3 Sternen

Die Geschichte erstreckt sich nicht nur über Generationen, Religions- und Ländergrenzen, sondern reizt auch aus, wie unfassbar zerbrechlich und zugleich fließend die Identität eines Menschen sein kann.

»Hier schreibt jemand, der etwas zu erzählen hat« sagt DIE WELT, und dem würde ich vorbehaltlos zustimmen. Sasha Marianna Salzmann weiß, wovon sie spricht, und sie spricht in einem so innovativen wie kompromisslosen Stil, der mal poetisch klingt – und mal so, als habe sie ihre Lebenswut aufs Papier gekotzt.

Zitat:
"Außerhalb ihres Kopfes verlief die Zeit schneller, es bewegten sich Dinge in Blitzgeschwindigkeit, Schuhe, die wie Schlangen um sich schnappten, Ottern und riesige Insekten, die sie ansprangen, sie schrie auf und hatte das Gefühl, geschrumpft und in ein Bild gesteckt worden zu sein, das bei McDonald's an der Wand hing. Alles war Dschungel, alles war Farben, alles machte ihr Angst, und sie wusste nicht, ob sie auf dem Boden lag oder in ein Loch gefallen war."

Aber dieses 'etwas', das sie zu erzählen hat, blieb für mich über weite Strecken nicht greifbar, ihre Charaktere interessant, aber seltsam blutleer. Auch die Wucht des Schreibstils blieb oft auf dem Papier kleben.

Wenn der schnelle Wechsel von Schauplätzen und Perspektiven den Leser irritiert und verwirrt, so ist dies von der Autorin jedoch durchaus erwünscht. Sie wolle dem Leser eine Ahnung verschaffen, sagte sie in einem Interview, wie es sich anfühlt, wenn "die Drehscheibe zu schnell ist".

Und die Drehscheibe ist rasend schnell für die Menschen, die sie in ihrem Roman beschreibt. Anton und Ali sind die Kinder von Heimatlosen, haben die Rastlosigkeit im Blut, begegnen auf ihrer Suche nach dem eigenen Ich nur mehr anderen Suchenden, aber keinen Angekommenen. Besonders Ali ist grenzenlos haltlos, ohne Anton hat sie das Gefühl, auch sich selbst verloren zu haben. Aber ist sie überhaupt eine Sie? Sexualität und Gender werden durch Antons Verschwinden erschüttert: es bleibt unklar, ob Ali transgender ist oder den Verlust des Bruders kompensieren will, indem sie/er seine Identität übernimmt. Letztlich bleibt sogar offen, ob es Anton je gab, oder ob er von Anfang an eine Abspaltung des genderqueeren Teils von Ali war.

Zitat:
»Ich reihe meine Vielleichts aneinander, Kügelchen für Kügelchen, ungeschliffene Murmeln, die keine vorzeigbare Kette ergeben.«

Möglicherweise ist das schon die Erklärung, warum es mir so schwerfiel, für die Charaktere mehr als vages Interesse zu empfinden: sie sind unfassbar, im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie keine klar umgrenzte Identität haben, und damit wird der interessanteste Aspekt des Buches zugleich zu seiner größten Schwäche.

Ganz nebenher erzählt die Autorin die Lebensgeschichte der entwurzelten russisch-jüdischen Familie Tschepanow über vier Generationen – was an sich gar nicht auf 366 Seiten passen sollte, es aber tut, weil alles fragmentarisch bleibt.

Auch hier wieder: interessant, aber.

Es erklärt Ali, und es erklärt Ali nicht, weil der Leser die Familiengeschichte sieht wie in einem zerbrochenen Spiegel. Mir erschwerte das Fragmentarische die emotionale Investition, die die Geschichte in meinen Augen fordert – auch wenn es wunderbar Alis Identitätskrise widerspiegelt und verdeutlicht, was für ein trügerisches Konstrukt die menschliche Erinnerung ist.

Zitat:
»Mein Name fängt mit dem erste Buchstaben des Alphabets an und ist ein Schrei, ein Stocken, ein Fallen, ein Versprechen auf ein B und C, die es nicht geben kann in der Kausalitätslosigkeit der Geschichte.«

Möglicherweise muss man sich als Leser von der Vorstellung verabschieden, das Buch müsse einem seinen Sinn offenbaren und Alis Reise in vollkommener Selbsterkenntnis enden. Es spricht wichtige, interessante Themen an. Die Sprache an sich ist es wert, gelesen zu werden, die Geschichte an sich ist es wert, gelesen zu werden.

Für mich scheiterte es – oder ich? – jedoch an der Umsetzung, die Drehscheibe drehte sich zu schnell. Ich spürte, dass sich hinter dem, was ich las, etwas Großes verbarg, bekam es im Schwindel der Erzählung jedoch nicht zu fassen. 

Fazit:
"Außer sich" ist vieles: eine epische Familiengeschichte, ein rasant erzählter, mutiger Roman mit einer Unzahl von Themen: Migration, Integration, Fremdenhass, Genderidentität, Inzest und immer wieder Selbstfindung, Selbstverlust... Es passiert unglaublich viel, und es fühlt sich an, als würde alles gleichzeitig passieren, der Schreibstil ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Wucht. Einfach ist das nicht – kein Buch zum nebenher Konsumieren. 

Was meine abschließende Bewertung betrifft, bin ich so zwiegespalten wie die Hauptfigur des Buches bezüglich ihrer Identität: letztendlich bleibt es ein Buch, dessen Ehrgeiz, Mut und sprachliche Innovation ich anerkenne, das mich jedoch dennoch nicht vollends überzeugen konnte.