Rezension

Vergiss es nicht

Etta und Otto und Russell und James - Emma Hooper

Etta und Otto und Russell und James
von Emma Hooper

Bewertet mit 4.5 Sternen

»Otto, ich bin weggegangen. Ich habe noch nie das Meer gesehen und habe mich nun auf den Weg gemacht. Keine Sorge, den Laster lasse ich da. Ich gehe zu Fuß. Und ich werde versuchen, das Heimkommen nicht zu vergessen. (Immer) deine Etta.«

Die 83jährige Etta hat sich auf eine weite Wanderung begeben. Allein. Nach einem langen gemeinsamen Leben hat sie sich entschlossen, eine Strecke von 3.232 Kilometern von der heimischen Farm bis an die Ostküste Kanadas - ans Meer - zu laufen. Nur mit ein wenig Proviant im Rucksack und Ottos Gewehr. Und einem Zettel in der Tasche, auf dem ihr Name steht - weil sie den hin und wieder vergisst. Schon bald hat sie einen vierbeinigen Reisebegleiter, einen Kojoten, den Etta James nennt.

Otto lässt sie gehen, fährt ihr auch nicht nach. Stattdessen beschäftigt er sich mit Dingen, die er zuvor noch nie im Leben getan hatte. Und auch Russell, ein alter Freund und Nachbar von Etta und Otto, wagt etwas völlig Neues: Er, der noch nie von zuhause fort war, bricht auf, um Etta zu suchen...

 

Als ich begann, dieses Buch zu lesen, erwartete ich eine Geschichte à la Harold Fry, eine Roadstory, bei der es um all die Dinge geht, die Etta auf ihrem langen Weg wohl begegnen werden. Und stellte überrascht fest, dass diese Geschichte doch noch einiges mehr bietet. Die drängendste Frage war für mich, wieso sich eine 83jährige einen solchen Marsch vornimmt. Das Meer sehen zu wollen, ist ein verständlicher Wunsch. Aber sie hätte doch auch "normal" reisen können, mit vernünftigem Gepäck, Hotelübernachtungen und ordentlicher Verpflegung. Stattdessen läuft sie sich die Füße blutig, leidet Hunger und Durst und schläft unter freiem Himmel. Die Erklärung hierfür erschließt sich im Lauf der Handlung, die mal Ettas Weg beschreibt, mal das, was Otto und Russell erleben, mal in der Gegenwart spielt und mal in der Vergangenheit.  

 

In Rückblenden lernen wir die drei Protagonisten kennen und erfahren, wie sie sich kennenlernten und was ihr Leben entscheidend geprägt hat. Otto und Russell wuchsen wie Brüder auf, Etta war ihre nur wenige Jahre ältere Lehrerin. Alle drei waren mir sofort sympathisch! So vieles unterschied die Freunde - aber so vieles verband sie auch. Der 2. Weltkrieg trennte ihre Wege, Otto wurde Soldat während der dienstuntaugliche Russell zuhause blieb und Farmer wurde. Sehr anschaulich wird gezeigt, wie der junge Otto, dem der Griff zur Waffe zuvor wie ein Abenteuer vorkam, wie ein Schritt in die Freiheit, in die weite Welt hinaus, von der Wirklichkeit des Krieges desillusioniert wird. Ein stetiger Briefwechsel mit Etta half ihm, diese Zeit durchzustehen. Und nun, Jahrzehnte später, werden wieder Briefe geschrieben.

 

Ich möchte gar nicht mehr verraten. Die ganze Geschichte ist unheimlich berührend und lädt zum Nachdenken ein. Es ist eine Geschichte über Liebe und Freundschaft, über Erinnerungen und das Vergessen, über neue Wege und den Weg zu sich. Sehr schön zu lesen und sehr poetisch geschrieben. Lediglich der Schluss war für mich nicht ganz rund und hinterließ bei  mir das Gefühl, dass irgendetwas fehlte.

 

Fazit: Sehr schöne und poetische Geschichte über alte Freunde, Erinnerungen und den Weg zu sich.
 

»Hoffentlich geht es dir gut. Bleib immer im Schatten und schreib mir, wenn du Zeit hast. Ich lese deine Briefe laut, damit im Haus eine Stimme zu hören ist.

Dein, vergiss es nicht, Otto.«