Rezension

Vielversprechendes Krimi-Debüt

Girl on the Train - Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich.
von Paula Hawkins

Bewertet mit 3 Sternen

Jeden Morgen nimmt Rachel den gleichen Zug in die Stadt. Sie ist geschieden, Alkoholikerin und hat ihren Job schon vor Monaten verloren, doch die tägliche Zugfahrt ist die letzte Konstante, die ihr noch geblieben ist und ihrem Leben den Anschein von Normalität verleiht. Allerdings ist Rachels Situation alles andere als normal: Durch die Zugfenster glaubt sie ein Ereignis beobachtet zu haben, das in einem aktuellen Vermisstenfall wichtige Hinweise liefern könnte. Aber wer glaubt schon einer Alkoholikerin, die sich nicht einmal selbst sicher ist, welche ihrer Erinnerungen real und welche nur eingebildet sind?

Ich habe "Girl on the Train" von einer Kollegin geliehen bekommen und hätte das Buch wohl sonst nicht gelesen, da meine Ausflüge ins Krimi- und Thriller-Genre eher selten sind. Hier aber steht eher das Psychogramm einer vom Schicksal nicht gerade gut behandelten Frau im Mittelpunkt und die Spannung baut sich langsam auf.
Mir war Rachel trotz ihrer offensichtlichen Schwächen sympathisch und ich habe jedes Mal wieder mitgelitten, wenn sie trotz aller guten Vorsätze zur Flasche gegriffen und anschließend einen Filmriss hatte.
Tatsächlich konnte ich irgendwann in der Hälfte des Buches die Ungewissheit nicht mehr aushalten, was Rachel an diesem einen fatalen Abend im Bahnhof wirklich passiert ist, so dass ich vorblättern musste :breitgrins:.
Das hat das Lesevergnügen allerdings nicht getrübt, denn die Auflösung ist doch ganz anders als gedacht. Geübte Krimileser haben wahrscheinlich schon vorher einen Verdacht gehegt, aber für mich Gelegenheits-Leserin in dieser Sparte waren Spannung und falsche Fährten völlig ausreichend vorhanden.

Gut gefallen hat mir der Perspektivwechsel zwischen den drei unterschiedlichen Frauen Rachel, Anna (die neue Frau von Rachels Exmann) und Megan, die vermisst wird. Dabei war mir Rachel mit Abstand am sympathischsten; ich fand es überzeugend geschildert, wie sie in ihre aktuelle Lage kommen konnte und wie schwer es für sie ist wieder einen Fuß auf den Boden zu bekommen -  vor allem, weil sie gerade dies allzu oft mit den eigenen Handlungen effektiv verhindert.
Der Schreibstil ist einfach und in Alltagssprache gehalten. Hier wäre noch ein bisschen mehr Tiefe möglich gewesen. Mir schweben dabei die großartig geschriebenen Krimis von Barbara Vine oder Ingrid Noll vor, in denen ebenfalls psychologisch ausgefeilte Charakterisierungen die Erzählung dominieren, während sich die Krimihandlung eher um die Personen herum entwickelt. Ein weiterer Buchtipp in Richtung "Mehr Psychogramm als Krimi" ist auch "Der Schuldige" von Lisa Ballantyne.

Man darf nicht vergessen, dass es sich bei "Girl on the Train" um ein Debüt handelt, insofern wurden meine Erwartungen übertroffen und ich bin froh, doch immer mal wieder auf interessante Fundstücke abseits meines üblichen "Beuteschemas" zu stoßen.

Für vier Punkte war mir allerdings der Sprachstil zu einfach. Da geht noch was!