Rezension

Voller Melancholie und Weltschmerz

Winter so weit - Peer Martin

Winter so weit
von Peer Martin

Bewertet mit 4.5 Sternen

Das ist eins der Bücher, das man beendet, und dann ist man total fertig. Mit den Nerven. Mit den Gefühlen. Mit der Welt. Mit allem.

Ich hatte Angst vor dem zweiten Teil. Ich hatte wirklich Angst. Ich fand, dass der erste gut für sich stehen konnte, ich fand, dass das Ende passte, und ich hatte Angst, dass diese Fortsetzung alles kaputtmachen würde.
Doch all diese Gedanken wurden beim Lesen absurd. Ich glaube, ich habe ganz diesen Stil vergessen. Die Worte, die mal voller Poetik und sprachlicher Bilder ist, und einem dann wieder ganz schonungslos die Wahrheit ins Gesicht klatscht. Einem den Atem raubt, wegen dieser unfassbaren Grausamkeit und Ungerechtigkeit.
Irgendwie gelingt es Peer Martin, den syrischen Bürgerkrieg in all seiner Grausamkeit rüberzubringen, sodass ich teilweise das Gefühl hatte, ich wär selbst dort, zwischen den zerstörten Ruinen eines ehemals wunderschönen Landes. Inmitten eines gnadenlosen Krieges. Mehr als einmal weinte ich innerlich, äußerlich erstarrt wegen all dem.

Und dann die andere Seite der Medaille. Fremdenhass, Neo-Nationalsozialismus in Deutschland, rechte Gruppen. Ich habe es verabscheut beim Lesen.
Und beide Themen sind einfach unfassbar gut recherchiert, was die Zitate vor den Kapiteln zeigen. Und die Rechercheanstöße, den ich noch folgen muss. Überhaupt, auch hier gab es wieder viele schöne Textstellen, aber ich konnte mich nicht von den Seiten lösen, um die Seitenzahlen aufzuschreiben. Ich vergaß die Welt um mich herum, wurde komplett reingezogen in diese Geschichte, die manchmal irreal anmutet und doch realer ist wie die meisten anderen.

Klar, man könnte jetzt darüber diskutieren. Darüber, dass es in dem Buch Stellen gibt, die unseren Vorstellung von real und möglich widersprechen, die mystisch anmuten. Unerklärbare Dinge. Dass die Geschichte sowas nicht braucht, dass sie vielmehr zu realistisch ist, als dass sowas geht.
Aber das ist einfach dieser Stil. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verblassen manchmal, manchmal weiß man auch als Leser*in nicht mehr so ganz, was Einbildung ist und was nicht, und dennoch verliert das Thema kein bisschen an Ernsthaftigkeit.
Stattdessen wurde ich beim Lesen immer von einer seltsamen Melancholie mitgepackt. Wegen dieses wunderschönen, aber eben auch melancholischen Schreibstils einerseits. Wegen dieser ungerechten Geschehnisse andererseits, die Weltschmerz in mir hervorruften.

Die Wendung, vor der ich die ganze Zeit Angst hatte, wurde tatsächlich so nachvollziehbar und logisch reingebracht, dass ich sie nicht als unpassend, störend oder falsch empfand, sondern auf einmal ziemlich froh über diesen zweiten Teil war.
Natürlich kann ich nicht beurteilen, inwieweit die beschriebenen Verhältnisse in Syrien der Realität entsprechen. Inwieweit das, was da passiert, überhaupt möglich wäre. Und manchmal war es mir ein kleines bisschen zu viel. Zu viel Glück, zu viel Pech, zu viel.
Aber vielleicht ist diese Geschichte auch nur eine Zeichnung eines Traumes. Der dennoch nicht die Schärfe der Wirklichkeit verliert.

Calvin hat so wenig noch mit dem Neo-Nazi gemein, den ich im ersten Band gehasst habe. Und doch hat er natürlich diese Vergangenheit. Er verändert sich, hat sich verändert, und irgendwann wurde mir bewusst, dass ich ihn mittlerweile wirklich mochte. Dann gab es wieder ein, zwei Szenen, bei denen ich mit seinem Verhalten nicht einverstanden war, eine, die schon diskussionswürdig ist, aber nicht zwangsläufig problematisch.
Was man der Geschichte vielleicht noch vorwerfen könnte, ist, dass vieles zu konstruiert zussamenhängt. Aber wie gesagt, es ist keine Geschichte mit dem Anspruch, huntderprozentig realistisch zu sein. Es ist eine Geschichte. Und die bringen manchmal die Wahrheit am grausamsten rüber.

Fazit: Eine fesselnde und mitreißende Geschichte mit einem melancholischen, poetischen und ehrlichen Schreibstil, bei der manchmal die Grenzen zwischen Vorstellung und Wirklichkeit verwischen, die aber vielleicht gerade dadurch die Wahrheit noch grausamer vermittelt, sodass es mir als Leserin den Atem raubte