Rezension

Vom gesellschaftlichen Aufstieg und seinen Tücken

Immergleiche Wege - Richard Russo

Immergleiche Wege
von Richard Russo

Bewertet mit 4 Sternen

James Cox wurde dabei erwischt, dass er eine kopierte ältere Studienarbeit als eigene Leistung eingereicht hat. In der Sprechstunde seiner Anglistik-Professorin zeigt Cox sich weniger zerknirscht als selbstbewusst. Janet Moor, erst seit einem Jahr Professorin, hat mit der Recherche des Plagiats unnnötig Zeit vertrödelt. Mehr als über den mangelhaften Respekt ihres Studenten ärgert sie sich jedoch darüber, dass sie sich - als Frau - an ihrem Lehrstuhl weniger anerkannt fühlt als ihre männlichen Kollegen. Kollege Tony zum Beispiel nimmt Abkupfern nicht übel, kennt er die entsprechenden Tricks doch aus eigener Erfahrung. Tony vertrödelt keine Zeit mit der Suche nach Beweisen, wenn ihm eine Arbeit verdächtig bekannt erscheint, greift er mit der Vermutung, es wäre ein Plagiat, so forsch wie direkt an. Janets Gedanken kreisen um Sprechstunden, die männliche Kollegen in den Verdacht sexueller Belästigung gebracht haben. Ein Rückblick zeigt sie als junge Doktorandin, die sich von ihrem charismatischen Professor dabei ertappt fühlt, dass sie ihr Thema aus taktischen Gründen wählte und Leidenschaft in ihrer Arbeit nicht zu erkennen ist. Nur formal durch eine Professur abgesichert, steht Janet und ihrem Mann eine Veränderung ihrer Aufgabenteilung bevor, da ihr Sohn offenbar behindert ist.

Mit einer Reisegruppe älterer Amerikaner sind zwei Brüder im Rentenalter in Venedig und Rom unterwegs. Das stramme Besichtigungsprogramm scheint für die Altersgruppe etwas zu ambitioniert. Nate als Englischprofessor im Ruhestand ist Experte für Jane Austen und wurde von seinem Bruder zu der Reise gedrängt. Beide Männer waren nacheinander mit derselben Frau zusammen. Die Brüder haben sich seit Jahren nicht gesehen und scheinen in einen zunächst vage angedeuteten Konflikt verstrickt. Nate hat offenbar gesundheitliche Probleme, die seine Wahrnehmung beeinflussen und ihm an einem unbekannten Ort Probleme bereiten könnten. Doch in der Truppe scheint er nicht der einzige zu sein, dessen Welt gerade aus den Fugen gerät.

Der Immobilienmakler Ray und seine Frau Paula fallen aus dem Universitätsmilieu der beiden ersten Erzählungen heraus, fügen sich jedoch in das aus Russos Romanen vertraute Figurenpersonal. Ray erlebt durch seine Krebs-Erkrankung erneut seine Identifikation mit seinem Vater, der von anderen missachtet wurde und sich missachten ließ.

Die vierte Geschichte dreht sich um einen Drehbuchschreiber, der ganz und gar kein glamouröses Leben führt und ohne Versicherungsschutz das finanzielle Risiko allein zu tragen hat. Krankheit oder Behinderung, die US-Amerikaner direkt in den finanziellen Ruin führen, scheint für europäische Leser das verbindende Motiv aller Erzählungen zu sein.

In vier Erzählungen zwischen 40 und 100 Seiten Umfang erzählt Russo von alternden oder desillusionierten Figuren, teils aus dem Universitätsmilieu, vor denen sich schwarze Löcher persönlicher Schwächen oder Schicksalsschläge auftun. Auch gesellschaftlicher Aufstieg schützt Russos Personal nicht vor Krankheit und persönlichen Enttäuschungen. „Stimme“, die Erlebnisse zweier gegensätzlicher Brüder in Venedig, bietet m. A. die vielschichtigste Handlung und mir als Leser den größten Interpretationsspielraum.