Rezension

Von der Liebe zum Wort

Die Sehnsucht des Vorlesers
von Jean-Paul Didierlaurent

Bewertet mit 5 Sternen

Einige Worte zum Inhalt

Guylain Vignolle, der es nicht ausstehen kann, wenn man sich über seinen Namen lustigmacht, arbeitet in einer Fabrik, die darauf spezialisiert ist, ausgediente Bücher zu zerstören. Diese Arbeit, die ihm jeden Tag das Herz zerreißt, führt zu seinem außergewöhnlichen Hobby, morgens im Zug gerettete Buchseite vorzulesen. Eines Tages schlägt das Schicksal zu: Guylain findet einen USB-Stick, auf dem er etwas gänzlich Unerwartetes entdeckt …

Meine Meinung

Die Sehnsucht des Vorlesers ist ein künstlerisches Stück Wortliebe. Aus jedem Satz spricht die Vorsicht, die Hingabe, mit der er formuliert wurde. Dieses Buch ist kein nervenzerreißendes Abenteuer, das Adrenalin durch die Adern schießen lässt; viel eher ist es eine unerwartet sanfte und gemütliche Kutschfahrt. Oder Zugfahrt, wie Guylain wohl einwenden würde.

“Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht schreibe – denn das wäre so, als hätte ich an dem Tag nicht wirklich gelebt und mich stattdessen nur auf die Rolle beschränkt, die die Leute mir übergestülpt haben.” – S. 152

Der Protagonist des Romans ist so durchdacht, intelligent und liebenswürdig, dass kein Weg daran vorbeiführt, ihn zu mögen. Guylain Vignolle ist ein einsamer junger Mann, der zurückgezogen lebt und sich täglich darauf freut, am Abend zu seinem Goldfisch zurückzukehren. Die Arbeit in der Fabrik lässt ihm das Herz bluten, denn Guylain liebt Bücher, und so rettet er täglich aus einer Ecke der Bestie, wie er sie nennt, Buchseiten, die verschont wurden. Diese Findelkinder trocknet er liebevoll und nimmt sie am nächsten Tag mit auf die Zugfahrt zur Fabrik, während derer er seinen gespannten Zuhörern vorliest, was er aus dem Papierfresser gezogen hat. Ob Kochrezepte oder ein Ausschnitt aus einem Roman: Guylain liest alles vor, was er in die Finger bekommen kann, und die Menschen lieben ihn dafür.

“Vor ein paar Tagen habe ich entdeckt, dass es auf dieser Welt jemanden gibt, der eine erstaunliche Wirkung auf mich hat.” – S. 219

An einem Montagmorgen jedoch wird sein Tagesablauf gestört. Er findet einen USB-Stick, den er kurzerhand einsteckt. Was sich auf diesem Stick befindet, verändert sein Leben: Es handelt sich um das Tagebuch einer Klofrau, die ihre Erlebnisse und Gedanken in wunderschönen Worten niederschreibt. Guylain ist augenblicklich besessen von der Frau, die hinter den Zeilen steckt, und trägt seine Begeisterung in die Welt hinaus, indem er beginnt, die Texte auf seinen morgendlichen Zugfahrten vorzulesen.

“Für die einen ist es Klopapier, für die anderen die längste Serviette der Welt!” – S. 211

Doch wer steckt hinter der geheimnisvollen Autorin? Auf dem Weg zur Aufdeckung dieses Mysteriums begegnet Guylain vielen hinreißenden, ulkigen Persönlichkeiten, die mit ihrer Einzigartigkeit jedes Herz im Sturm erobern. Sei es der Wachmann Yvon Grimbert, der seine Nase am liebsten in klassische Theaterstücke steckt und bevorzugt in Reimen kommuniziert, die schusseligen alten Damen Germaine und Monique oder Guylains alter Freund Guiseppe, der ein Bein an die Bestie verlor.

Der Schreibstil ist harmonisch, klar und doch verspielt. Einfach unbeschreiblich schön. Als würde man auf einer Welle dahingleiten. Auch die Buchausschnitte und die Tagebucheinträge fügen sich trotz der unterschiedlichen Schreibstile (oder gerade deswegen?) wunderbar in das Gesamtbild ein und komplettieren die Handlung auf eine sehr geschickte Art und Weise. Bei diesem Buch stimmt einfach alles!

Fazit

Dieser literarische Leckerbissen ist etwas für all jene unter euch, die sich an einem kunstvollen Schreibstil, liebenswerten Charakteren und einer subtilen Liebe erfreuen können. Die Sehnsucht des Vorlesers war eines meiner Highlights des letzten Jahres!