Rezension

Von weißen Flecken in unserer Einnerung, der Landschaft unserer Kindheit und übersehenen Geschwisterkindern

Sommerkind - Monika Held

Sommerkind
von Monika Held

Bewertet mit 5 Sternen

Als Ragna 40 Jahre alt ist und als Wissenschaftlerin über erzählte Biografien forscht, muss sie sich eingestehen, dass es in ihren eigenen Kindheitserinnerungen einen großen weißen Fleck gibt. Sie hat ein Bild von einer leblosen Person in einem Schwimmbad vor Augen, aber die Vorgeschichte des Vorfalls scheint verloren oder verdrängt zu sein. So könnte ein Text über Monikas Helds neuen Roman beginnen. Oder: Max war ein Naturtalent darin, sich um Kinder zu kümmern, die nach einer Kopfverletzung nicht wieder ins Leben zurückfanden. Aber auch: Warum Menschen im Alter Sehnsucht nach der Landschaft ihrer Kindheit entwickeln, ist längst nicht ausreichend erforscht. Tatsächlich kann jeder Leser seine individuelle Tür wählen, um dieses außergewöhnliche Buch zu betreten; denn es gibt mehrere sehr persönliche Zugänge zur Geschichte von Ragna, Kolja und Max. Vielleicht gibt es mehr denkbare persönliche Zugänge zum Text, als ich mir bisher vorstellen kann.

Mit 15 Jahren ist Kolja unsterblich in Ragna verliebt, die in die Klassenstufe über seiner geht. Ehe diese Liebe auch nur die Spur einer Chance erhält, steigt Koljas kleine Schwester eines Tages über den Zaun des Schwimmbads, um im Becken zu schwimmen anstatt im Meer wie alle anderen. Leblos im Schwimmbecken treibend, wird sie von Ragna gerettet, die Rettungsschwimmerin der DLRG ist. Was Malu sich bei ihrer Aktion gedacht hat und was ihr geschehen ist, wird für immer verborgen bleiben, weil sie nicht wieder aus dem Wachkoma erwacht. Kolja musste mit Mutter und Schwester umziehen, damit Malu in einem Pflegeheim betreut werden konnte. Im Heim nennt man jene Kinder Sommerkinder, die im Sommer verunglückt sind. Die Familie zerbricht an dem tragischen Ereignis. Koljas Kindheit ist von einem Tag auf den anderen zu Ende. Auf Außenstehende wirkt der Bruder wie ein aus dem Nest gefallenes Junges. Schweigen und unausgesprochene Schuldgefühle breiteten sich so weit im Leben der Angehörigen aus, dass Kolja sich eine Zeit lang am Ende seines eigenen Lebens angekommen fühlt.

Ragnas Suche nach ihren Erinnerungen und ihrer Kindheit erzählt Monika Held aus zwei Perspektiven, Ragna spricht in der Ichform über sich und ein allwissender Erzähler faltet die Geschichte Koljas und weiterer Nebenfiguren auf. Neben dem Ausfüllen des weißen Flecks in Ragnas Biografie geht es um Trauerprozesse von Überlebenden privater Katastrophen, um übersehene Geschwisterkinder, um Mütter, die das Thema Behinderung zu einer Vollzeitbeschäftigung machen, um die psychische Situation von Lebensrettern und die Funktion des menschlichen Gedächtnisses. Die anfangs märchenhafte Tonlage des bemerkenswerten Romans hat mich nicht durchgehend überzeugt; denn Kolja ist zum Zeitpunkt des Unfalls nach meiner Einschätzung kein Kind mehr. Selbstverständlich kann der Roman auch von circa 15-jährigen Jugendlichen gelesen werden, die in Ragnas und Koljas Alter zum Zeitpunkt des Unfalls im Schwimmbad sind.