Rezension

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Vorsicht: Lesen kann zu Besessenheit führen!

Finderlohn
von Stephen King

Der Schriftsteller John Rothstein hat eine Romantrilogie um den Helden Jimmy Gold geschrieben, mit der er berühmt und reich wurde. Aber das ist lange her, und "Amerikas scheues Genie" hat sich schon seit Jahrzehnten in ein abgelegenes Kaff zurückgezogen und veröffentlicht nicht mehr. Morris Bellamy ist ein Fan von Jimmy Gold, doch er ist empört darüber, dass Rothstein diesen Rebellen im letzten Band zum angepassten Spießbürger mutieren ließ. Gemeinsam mit zwei Kumpanen überfällt er den Autor, doch während seine Helfer nur auf das Bargeld scharf sind, will Bellamy die Notizbücher aus dem Safe - und seine Rache. Zunächst vergräbt er den ganzen Schatz, aber ehe er sich an der Beute freuen kann, wird er für ein anderes Verbrechen lebenslänglich inhaftiert. 

Jahre später findet der Junge Peter Saubers den Koffer mit Manuskripten und Geld. Das Geld braucht er dringend, denn sein Vater wurde bei der Todesfahrt von "Mr. Mercedes" schwer verletzt, der Familie droht der Ruin und die Eltern stehen kurz vor der Scheidung. Das Geld, das Peter ihnen in Raten anonym zusendet, rettet die Familie. Doch auch der andere Teil des Fundes wird ihm wichtig: Dank eines charismatischen Lehrers ist Peter ein leidenschaftlicher Leser geworden. Er ist fasziniert, als er entdeckt, dass zwei weitere Romane um Jimmy Gold Teil seiner Entdeckung sind. Was soll er nur mit den Manuskripten tun - für eine Veröffentlichung sorgen oder sie unter der Hand verkaufen, als das Geld aufgebraucht ist? Während Peter noch mit einer Entscheidung ringt, wird Bellamy endlich entlassen und macht sich auf die Suche nach seiner vergrabenen Beute.

Im ersten Teil des Buches werden diese beiden Handlungsstränge parallel geführt. Im zweiten Teil trifft der King-Leser auf alte Bekannte: Bill Hodges, Jerome Robinson und Holly Gibney, das ungleiche Ermittlertrio aus "Mr. Mercedes". Über Umwege werden sie in den Fall verwickelt.

Mehr soll von der Handlung nicht verraten werden. Der nun in Gang gesetzte Wettlauf um die Manuskripte und der Kampf zwischen dem jugendlichen Peter ("Saubers"!) und dem skrupellosen alten Mörder hat Spannung. Manche Leser finden wohl, dass diese Spannung zu lange auf sich hat warten lassen. Hier bin ich anderer Meinung: Der erste Teil bietet so vieles, das mich anspricht. Da ist die Milieuschilderung von der Mittelschicht, die gegen den wirtschaftlichen Abstieg kämpft, und vom Gefängnis; da sind die Charakterschilderungen von glaubwürdigen Personen, allen voran Peter, dessen Ringen mit der Verantwortung schon Züge eines Entwicklungsromans trägt. Und da ist die Literatur: Der charismatische Lehrer und sein Einführungsvortrag, aus dem ich mir wohl eine Leseliste zusammenstellen werde. Der alte Rothstein und sein Held Jimmy Gold erinnern mich an J.D. Salinger und Holden Caulfield; zwar gibt es um Holden keine Trilogie, sondern leider nur ein einziges Buch, doch auch Salinger hat bis zu seinem Tod jahrzehntelang weiter geschrieben, ohne je zu veröffentlichen. [Ach, wenn da doch endlich etwas aus dem Nachlass veröffentlicht würde...!] King beschreibt die Bedeutung von Literatur und den Einfluss, den sie auf den Leser haben kann - aber er nimmt gleichzeitig eindeutig Stellung, dass lebende Menschen wichtiger sind als fiktive. 

Und dann, ganz am Ende des Buches, gibt es einige kurze Stellen in dem Stil, für den King so berühmt ist: Da gibt es einen kurzen Blick in den Abgrund des Abnormalen, des Übernatürlichen, des blanken Horrors. Das schreit geradezu nach einer Fortführung - und die werde ich unbedingt lesen!