Rezension

Warum die Toten hoch fliegen

Die Zweisamkeit der Einzelgänger - Joachim Meyerhoff

Die Zweisamkeit der Einzelgänger
von Joachim Meyerhoff

Bewertet mit 4 Sternen

Eine blitzgescheite Studentin, eine zu Exzessen neigende Tänzerin und eine füllige Bäckersfrau stürzen den Erzähler in schwere Turbulenzen. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse ist physisch und logistisch kaum zu meistern, doch trotz aller moralischen Skrupel geht es ihm so gut wie lange nicht. Am Anfang stand eine Kindheit auf dem Anstaltsgelände einer riesigen Psychiatrie mit speziellen Freundschaften zu einigen Insassen und der großen Frage, wer eigentlich die Normalen sind. Danach verschlug es den Helden für ein Austauschjahr nach Laramie in Wyoming. Fremd und bizarr brach die Welt in den Rocky Mountains über ihn herein. Kaum zurück bekam er einen Platz auf der hochangesehenen, aber völlig verstörenden Otto-Falckenberg-Schule, und nur die Großeltern, bei denen er Unterschlupf gefunden hatte, konnten ihn durch allerlei Getränke und ihren großbürgerlichen Lebensstil vor größerem Unglück bewahren. Nun ist der fragile und stabil erfolglose Jungschauspieler in der Provinz gelandet und begegnet dort Hanna, einer ehrgeizigen und überintelligenten Studentin. Es ist die erste große Liebe seines Lebens. Wenige Wochen später tritt Franka in Erscheinung, eine Tänzerin mit unwiderstehlichem Hang, die Nächte durchzufeiern und sich massieren zu lassen. Das kann er wie kein Zweiter, da es der eigentliche Schwerpunkt der Schauspielschule war. Und dann ist da auch noch Ilse, eine Bäckersfrau, in deren Backstube er sich so glücklich fühlt wie sonst nirgends. Die Frage ist: Kann das gut gehen? Die Antwort ist: nein. (KiWi-Verlagsseite)

Nach den Bänden über Kindheit, Jugendzeit mit besonderem Augenmerk auf ein Jahr in Amerika und Schauspielschule liegt nun der an- und abschließende Teil von und über Meyerhoffs erste Berufs- und Liebesjahre vor.

Das Leben eines Jungschauspielers ist kein Zuckerschlecken, weder als Anfänger im Theaterensemble noch als Neuling in Sachen Liebe. Ganz schlimm wird’s, wenn man nicht mit sich selbst einig wird: Ist dies tatsächlich der Beruf, den ich mir gewünscht, für den ich gearbeitet habe, oder will ich vielleicht etwas völlig anderes, und wenn ja, was? Liebe ich Hanna in Bielefeld oder Franka in Dortmund, oder ist es möglich, dass ich unfähig zur Liebe bin?

Es ist nicht nur eine logistische Meisterleistung, seine beiden Leben unter einen Hut zu bringen, sondern auch eine ständige Selbstkontrolle. Zwischen seinen beiden Lebensgefährtinnen und den Theaterproben und –aufführungen werden Bäckerin Ilse und ihre Puddingbrezeln sein Refugium.

Meyerhoffs Sprachstil, seine flapsigen Sätze und die selbstironischen Äußerungen machen dem Leser, der sich daran schon dreimal erfreut hat, auch beim vierten Mal Spaß. Trotzdem schrammt das Buch nur haarscharf an dem vorbei, was Promi-Autobiographien mitunter unerträglich macht: Das Ich als Zentrum eines Beifalls, den es sich selbst spendet. Meyerhoff scheint diese Klippe zu kennen und setzt Übertreibung und Spöttelei ein, um sie zu umschiffen. Dass er Wirklichkeit und Fiktion verwebt, weiß man aus den vorherigen Bänden.

Meine Begeisterung über diesen Band hielt sich also in Grenzen. Bis zur letzten Szene des letzten Kapitels, als er seine Toten alle plötzlich wiedersieht. Bisher prägte Verdrängung seine Trauer, und er schleppte das Andenken an Bruder, Vater und Großeltern durch sein Leben. Jetzt weiß er, dass er die Toten weggeschoben hat statt sie loszulassen. Er lässt los, und jetzt fliegen alle Toten hoch.

Diese Schluss-Szene ist schlichtweg großartig, so einfach, so klar, so ruhig.

Der Schluss-Satz greift den Titel der Reihe auf. Nun weiß man den ungewöhnlichen Satz anzusiedeln. 

Kommentare

Zissi kommentierte am 02. Dezember 2017 um 08:55

Gänsehaut von deiner Rezension. Gut geschrieben. =) Werde ihn mir mal wieder vornehmen.

Vielen Dank und ein schönes Wochenende,

Zissi

Violetta kommentierte am 15. Dezember 2017 um 21:36

Vielen Dank. Meyerhoffs Reihe lohnt sich. 

Wegen der Chronologie am besten mit  Teil 1  "Amerika" anfangen.

luettawolf kommentierte am 16. August 2023 um 06:34

Völlig normal? Na klar. slope game