Rezension

Was bleibt von uns Menschen ohne Erinnerungen?

Memory Wall - Anthony Doerr

Memory Wall
von Anthony Doerr

Bewertet mit 5 Sternen

Ungewöhnlich wie ein Puzzle ist die Novelle „Memory Wall“ des amerikanischen Schriftstellers Anthony Doerr (44), die 2016 erstmals auf Deutsch, jetzt im Februar als btb-Taschenbuch erschien. In den USA kennt man sie schon seit 2010, doch erst Doerrs u.a. mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ (2014) machte diesen hervorragenden Autor in Deutschland bekannt, so dass seitdem auch frühere seiner Werke übersetzt wurden. Die „Memory Wall“ ist eine Wand in dem hoch über Kapstadt gelegenen Haus der 74-jährigen Alma Konachek, an der die stark an Demenz Leidende ihre verlorenen Erinnerungen in Fotos, Notizzetteln und einer Vielzahl von Kassetten festhält. Was wäre der Mensch ohne seine Erinnerungen, fragt uns der Autor und gibt mit seiner Protagonistin die Antwort: Ein hilfloses Wesen, das sich ziellos durchs Leben bewegt, rund um die Uhr von der Fürsorge ihres schwarzen Pflegers Pheko abhängig. Nur die Erinnerungen an Vergangenes wie an ihren verstorbenen Ehemann Harold geben Almas Leben noch Sinn und Struktur. Denn zum Glück ist es – zumindest in Doerrs Novelle - Kapstädter Ärzten gelungen, verlorene Erinnerungen mittels eines futuristischen Gehirnstimulators in den verborgenen Ecken des menschlichen Gehirns abzurufen und auf Kassetten abzuspeichern, so dass Demenzkranke wie Alma diese Erinnerungen an die Jugend, an gemeinsam verlebte Ehejahre, an wichtige Momente des Lebens zuhause jederzeit nach Belieben „wie eine Droge“ konsumieren können. Doch wie oft bei Entdeckungen wird auch diese vom Autor erdachte Technik missbraucht: Ehemann Harold hatte vor Jahren außerhalb Kapstadts ein sensationelles Fossil entdeckt, versteinerte Erinnerung an urzeitliches Leben. Durch Harolds plötzlichen Tod blieb der Fundort aber unentdeckt. Nur Alma könnte ihn kennen, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Deshalb ist Schwarzmarkthändler Roger Tchoni auf der Suche nach dieser einen Kassette, auf Almas Erinnerung gespeichert sein könnte und bedient sich dazu des 15-jährigen Waisenjungen Luvo, der – ohne eigene Erinnerung aufgewachsen und von den Medizinern als Versuchsobjekt missbraucht – durch seine Kopfimplantate fähig ist, Almas Erinnerungsbibliothek – ein Menschenleben in Kassetten – bei nächtlichen Einbrüchen in ihr Haus zu sichten. Wie Alma sich selbst im Laufe dieser kurzen, nur 144-seitigen Novelle ihre auf Kassetten gespeicherten Erinnerungen völlig unsortiert in loser Folge abruft, so erfahren auch wir Leser die Handlung nur bruchstückweise und müssen uns die 40 kurzen Kapitel, in denen Zeit, Orte und Personen ständig wechseln, selbst zu einer chronologischen Lebensgeschichte Almas wie ein Puzzle zusammensetzen, also uns im Fortgang der Lektüre an Gelesenes wieder erinnern. Wir sind also mehr gefordert, als nur eine Handlung zu lesen. Die unsortierte, lockere Folge kurzer Szenen und meist ebenso kurzer Sätze regt den Leser zu Phantasie, zum Mitdenken und Nachdenken an. Vielleicht regt sie und sogar an, die eigenen Erinnerungen für unsere Kinder und Enkel in Fotoalben sicher abzuspeichern. Denn was bleibt sonst von uns ohne die Erinnerungen?