Rezension

"Was die Gläser unscharf macht“

Der Fledermausmann - Jo Nesbø

Der Fledermausmann
von Jo Nesbø

Bewertet mit 5 Sternen

"Was die Gläser unscharf macht“ bezieht sich auf S. 181

Harry Hole, 32, wird von Norwegen aus nach Australien geschickt, wo in Sidney eine junge Norwegerin ermordet und vergewaltigt wurde. Es ist kurz vor der Olympiade 2000, man will keine schlechte Presse. Harry und Nesbø gehen mit einem lakonischen Ton durch das Buch, dazu gehört bereits bei der Einreise folgender Dialog:

„Ich hoffe, es sind keine norwegischen Blondinen ermordet worden?“
…“Well, just one“, antwortete Harry Hole. S. 10

Der zuständige Vorgesetzte bei der Polizei stellt gleich klar, was seine Meinung zu dem Kollegen ist, mit dem Harry vor Ort zusammen ermittelt: „Kensington ist ein guter Mann. Nicht viele Ureinwohner bringen es so weit wie hier.“ S. 16

Harry bemerkt nicht nur vor Ort eine attraktive rothaarige Schwedin (immerhin auch aus Skandinavien), auch wird bei den Ermittlungen klar, dass es überraschend viele ähnliche Fälle gegeben hat: nicht ähnlich genug, um sofort aufzufallen, doch in zu großer Anzahl, um als Zufall zu erscheinen. Wie philosophiert er so schön: „Jedesmal, wenn man die Geschichte eines Mordes untersucht, ist man selbst irgendwie betroffen oder verletzt. Außerdem finden sich da im verborgenen immer noch viel mehr menschliche Scheiße und traurige Schicksale und viel weniger ausgetüftelte Motive, als man nach all den Agatha-Christie-Romanen glauben mag. Anfangs habe ich mich selbst als eine Art Ritter der Gerechtigkeit angesehen, aber manchmal fühle ich mich jetzt eher wie ein Müllmann. Mörder sind jämmerliche Gestalten, und es ist nur selten wirklich schwierig, mindestens zehn gute Gründe dafür zu finden, warum sie so geworden sind, wie sie sind.“ S. 64

Er konnte es schon beim ersten Mal. Ich lese hier den Debüt-Harry Hole, nachdem ich vor einiger Zeit mit Band Nummer 11 zum ersten Mal mit der Reihe Bekanntschaft geschlossen hatte. Man konnte Band 11 ohne Vorkenntnisse lesen, nur am Rande. Im Gegensatz zu Band 11 kommt dieser hier noch mit einem Ermitteln eher NACH der Tat aus, der Leser muss nicht irgendwelche Unappetitlichkeiten live erleben (o.k., Fundorte, also keine völlig Eignung für sensible Naturen). Dazu verblüffte mich der Autor bereits in Band 11 mit einer interessanten Romanstruktur: man hängt da gebannt am Text, arbeitet sich auf die Aufklärung hin und stellt dann fest, gerade erst bei der Hälfte des Buches zu sein. Auch hier kam dann noch einmal ein Hakenschlag, sozusagen ein „Fall im Fall“, ein Verbrechen mit Matroschka-Prinzip. Für die Lektüre wie das Kippen des Wagens während des Loopings in der Achterbahn.

Der Tonfall ist lakonisch, oft staubtrocken. „Das Kabel war aber so sauber wie ein…äh…“
Lebie machte eine Bewegung mit der Hand.
„Wie etwas, das normalerweise sehr sauber ist?“ eilte ihm Yong zur Hilfe. S. 299
Harry ist kein „beschädigter Ermittler“, eher jemand, der sich sehenden Auges selbst Schaden zufügt, ohne dass dafür eine Beschädigung in der Vergangenheit geschehen musste. Polizei-Kollegen, Verdächtige, Reisebegegnungen – alle sind sie zu mehr als Stereotypen charakterisiert, vielfach ineinander verschlugen. Harry hat eine ausgeprägte Beobachtungsgabe, nur mit der Interpretation hängt er gelegentlich hinterher. Der Leser kann mitraten, keine aus dem Hut gezogenen plötzlichen neuen Tatverdächtigen.

Der große Unterschied zum Band 11: Kensingtons Sätze bilden so eine Art Reiseführer mit politischen Hintergrund, man bekommt wirklich viel vermittelt, zur aktuellen Situation Australiens, zur Historie besonders speziell bezüglich der Aborigines. Das ist gut gemacht, aber degradiert leider einen Sympathieträger ein wenig zum Stichwortgeber und Märchenonkel (bezüglich der Mythen der ursprünglichen Bevölkerung Australiens). Das schient selbst dem Autor aufzufallen, er wechselt später die Stichwortgeber. Die Informationen sind interessant, erweitern aber irgendwie den spannenden Inhalt um eine Ebene, die es für mich nicht gebraucht hätte (sonst mag ich so etwas, hier ist es mir einen Tick zu viel, zu aufgepfropft). Auch das eine „Meeresungeheuer“ zum Ende war mir etwas zu melodramatisch, aber sei’s drum. Der Trip mit Joseph zuletzt war toll, ich habe mehr zu Harrys „Geistern“ erfahren und ihm gönne selbst ich die Dauer-Zeichnung, will aber wissen, was ihn jetzt zeichnet, und nein, ich mag Tattoos immer noch nicht.

5 Sterne wie auch bei Band 11, ich will jetzt auch die Lücken dazwischen füllen ;-)