Rezension

Was für eine intensivem bedrückend authentische Geschichte!

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
von John Green

Bewertet mit 4 Sternen

John Green ist ein Autor, an dem man mittlerweile kaum mehr vorbeikommt. Auch mir ging es so und nach Margos Spuren, meinem ersten Buch von ihm, und natürlich Das Schicksal ist ein mieser Verräter war ich ungeheuer gespannt auf seinen neuesten Roman Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken. Da ich möglichst unvoreingenommen an die Geschichte herangehen wollte, habe ich vorher keine Meinungen zum Buch gelesen - und das war gut so. Ich glaube, es macht einen großen Teil der Atmosphäre beim Lesen aus, wenn man sozusagen kopfüber in Azas Gedankenspirale stürzt und sich voll und ganz einlässt auf ihr Leben und ganz besonders ihre Psyche.

Wovon rede ich da? In Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken treffen wir wie gesagt auf die 16-jährige Aza, ein Mädchen, das sich in vielerlei Hinsicht von ihren Altersgenossen unterscheidet. Denn Aza hat im Laufe ihres Lebens eine ordentliche Anzahl an Zwangsneurosen entwickelt und ist sozusagen gefangen in ihren eigenen Gedanken, immer und überall. Sie sieht sich selbst und ihr Leben auf eine so verquere Weise, dass sie kaum in der Lage ist, darüber hinaus zu blicken und zu denken. Das macht sie zu einem wahnsinnig interessanten, aber auch sehr anstregenden Charakter. Wobei ich es hier unglaublich gut finde, dass Aza so anstrengend ist. Manchmal geht sie einem mit all ihren Ticks und ihren abwegigen Gedanken unheimlich auf den Geist, aber genau dadurch bringt John Green den Leser dazu, Azas Leben von ihrem Standpunkt aus zu betrachten. Denn auch ihre Umwelt reagiert verständlicherweise irritiert auf ihre Neurosen und ihr ganzes Wesen. Es ist schwer, Verständnis für sie zu entwickeln, aber genau dazu bringt einen John Green Schritt für Schritt.

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken wird in der Ich-Perspektive erzählt - wir tauchen also tatsächlich ein in Azas Gehirn, in ihre Gedankenwelt. Wir lauschen ihren Zwiegesprächen und schauen ihr dabei zu, wie sie gegen ihre inneren Dämonen, gegen ihre Ängste und Zwänge anzukämpfen versucht. Für mich ist das ein sensationeller Blickwinkel. Es ist hart, keine Frage. Denn John Green beschreibt Azas Gedankenwelt auf so bedrückend authentische Art und Weise, dass man unweigerlich schlucken muss. Man fühlt sich irgendwie eingesperrt, zumindest eingeengt und eigentlich durchweg unwohl, was dem Gefühl, das Aza hat, zumindest ein bisschen nahe kommt. Für mich ist John Green hier wieder voll und ganz in seinem Element, weil er es wie kaum ein anderer Autor schafft, Leser und Protagonist zu einer Person verschmelzen zu lassen.

Tatsächlich wurde ich ständig wie magisch angezogen von der Geschichte. Ich wollte sie weiterlesen, unbedingt. Immer und überall. Ich wollte unbedingt an Azas Seite sein. Ihr beistehen, wenn sie sich - ganz gegen ihren Willen und mit größtem Widerstand gegen ihre Zwänge - zum ersten Mal so richtig verliebt. Denn Aza verliebt sich nicht wie jeder andere Teenager - ihr hypochondrisches und phobisches Wesen macht es ihr beinahe unmöglich, sich auf einen anderen Menschen einzulassen. Sich fallen zu lassen, Nähe zuzulassen. Sie hat mehr als sonst das Gefühl, nicht Herr ihrer Sinne, Herr ihres Körpers und ganz besonders Herr ihres eigenen Ichs zu sein - eine ungewöhnliche Situation, die Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken so ungewöhnlich und mitreißend macht.

Trotz der durchgehend irgendwie beklemmenden Atmosphäre ist dieses Buch aber vor allem eine Liebeserklärung an das Leben und an die Freundschaft. Nichts in Azas Leben ist einfach, am allerwenigsten zwischenmenschliche Beziehungen. Und es hat mich wahnsinnig berührt und mitgerissen, sie bei jedem kleinen Schritt zu beobachten. Und John Green schreibt einfach so fantastisch, dass man einfach nicht mehr aufhören kann zu lesen (und es auch gar nicht will). Es gibt allerdings ein Handlungselement, dass sich mir von Anfang an nicht richtig erschlossen hat und dessen Auflösung mich am Ende auch überhaupt nicht zufriedengestellt hat: Das Verschwinden des Milliardärs Russell Pickett (der Vater von Azas Jugendfreund Davis). Diesen Part fand ich irgendwie absolut unnötig und in gewisser Weise auch unsinnig. Ich hätte ihn nicht gebraucht und mich lieber durchgehend auf Aza fokussiert. Aza Holmes, die das Verschwinden des Milliardärs aufklären will - das ist auch ein bisschen zu viel Klischee für meinen Geschmack. Das ist aber absolut das einzige an diesem Roman, das mich ein wenig gestört hat. Ansonsten liebe ich jedes einzelne Wort!

Mein Fazit:
John Greens Charaktere sind immer einzigartig und auch Aza ist eine Figur, die mich für lange Zeit nicht loslassen wird. Nach der beklemmenden und berührenden Expedition durch ihr Ich fühle ich mich tatsächlich ein wenig wackelig auf den Beinen - dieses Buch ist einfach so unglaublich gut! Und es wäre beinahe schon mein absolutes Jahreshighlight geworden, wäre da nicht die in meinen Augen vollkommen unnötige Suche nach Russell Pickett. Zwischenzeitlich hatte ich sogar komplett vergessen, dass das ja eigentlich der Aufhänger beziehungsweise der Rahmen für die Geschichte ist. Ohne dieses Handlungselement wäre Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken wohl einer meiner All-Time-Favorites, aber auch so muss ich sagen: Lesen, lesen, lesen! Und an alle Azas dieser Welt: Ihr seid großartig, so wie ihr seid!