Rezension

Was hätte sein können

All die Jahre
von J. Courtney Sullivan

Bewertet mit 5 Sternen

Eigentlich fängt alles damit an, dass Nora und ihre jüngere Schwester Theresa Ende der 1950er Jahre von Irland nach Amerika auswandern. Nora, um ihren Verlobten Charlie zu heiraten und Theresa, um eine Ausbildung als Lehrerin zu beginnen. Der Roman selbst beginnt allerdings 2009, als Noras ältester Sohn Patrick bei einem Autounfall stirbt. Der Verlust des Sohnes veranlasst Nora zurückzublicken, auf das, was ist und auf das, was war bzw. was hätte sein können.

Die Ereignisse aus Gegenwart und Zukunft wechseln ab, sodass sich zwei Handlungsstränge ergeben. In der Gegenwart kann man dabei eine nachdenkliche Nora erleben, in der Vergangenheit eher eine schüchterne, zurückhaltende. Während des Lesens entsteht allerdings nie der Eindruck eines Rückblicks, beide Handlungsstränge sind für sich gegenwärtig, wodurch der Eindruck einer Nacherzählung vermieden wird. Zusätzlich entsteht so eine gewisse Nähe zwischen dem Leser und Nora, da die in der Vergangenheit stattfindende Handlung direkt erzählt wird und nicht über einen Rückblick innerhalb der Geschichte.
J. Courtney Sullivan verknüpft die Ereignisse aus Gegenwart und Vergangenheit dabei so geschickt, dass der Leser Noras Handlungen der Gegenwart anhand der Ereignisse der Vergangenheit nachvollziehen kann und sich aus der Kombination der Handlungsstränge ein ganzes Bild ergibt. Nora ist kein einfacher Charakter, sie ist weder besonders sympathisch, noch besonders unsympathisch. Dennoch entsteht beim Lesen eine gewisse Nähe zu ihr, nicht nur weil sie die Protagonistin ist, sondern auch, weil ihre Handlungen menschlich und nachvollziehbar sind. Das macht auch den Roman stellenweise etwas trocken, eine Schwäche, die der Schreibstil der Autorin und die Konstruktion des Textes allerdings wieder gut zu machen wissen.

Ein Rückblick und ein tödlicher Unfall markieren den Beginn von "All die Jahre" und führen den Leser erst langsam und dann mit einem Knall an die Handlung heran. Durch die Nähe zur Protagonistin wird der Leser somit sofort auf der emotionalen Ebene angesprochen. Die Ansprache auf emotionale Ebener hält jedoch nicht lange an. Dafür wird jedoch bereits zu Beginn deutlich, dass sich das vollständige Bild erst im Laufe des Romans nach und nach zusammensetzt. „All die Jahre“ ist dabei allerdings kein Buch, dass man in einem Rutsch verschlingt, sondern eher ein langsamerer Text den man portionsweise liest. Das liegt nicht an einem etwaigen zähen Erzählstil, sondern vielmehr daran, dass sich die Ereignisse nach und nach entfalten und so an Tiefe gewinnen.