Rezension

Was ist Erinnerung - und was ist sie wert?

Das Buch der Spiegel - E. O. Chirovici

Das Buch der Spiegel
von E. O. Chirovici

Bewertet mit 4 Sternen

Phänomenales Puzzle - ist Erinnerung wahr?

Was ist Erinnerung und was ist sie wert, wenn sie doch rein subjektiv, beeinflussbar und manipulativ austauschbar ist? 
Mit diesen Fragen beschäftigt sich das Buch der Spiegel, auch wenn es zunächst scheinbar um den ungeklärten Mordfall am Princetoner Psychologieprofessor Joseph Wieder aus den 1980er Jahren geht. Richard Flynn, unheilbar krank, sendet Literaturagent Peter Katz den ersten Teil seines Buchs zu, das vermuten lässt, den Mörder des Professors zu enthüllen. Richard erzählt aus den 1980er Jahren, als er mit der Psychologiestudentin Laura Baines zusammenlebte, mit der er eine Liebelei hatte, und die ihm mit dem geheimnisvollen Professor Wieder bekannt machte. Richard vermutet, Laura habe auch eine Affäre mit dem Professor, und Laura wiederum deutet immer wieder gegenüber Richard geheime Untersuchungen an, an denen der Professor arbeite, und dass sie von ihrem Ex-Freund Timothy gestalkt werden würde. Schließlich wird der Professor tot aufgefunden und Laura verschwindet. Peter ist sehr interessiert am Roman, doch Richard verstirbt bevor er ihm den zweiten Teil des Buchs zukommen lassen kann. Also setzt Peter den Journalisten John Keller auf den ungelösten Mordfall an. Doch schon bald vermischen sich auch Kellers Erinnerungen mit den Dingen, die er im Manuskript gelesen hat. Er spricht mit Dr. Laura Westlake, ehemals Baines, die karrierebesessen und skrupellos eine andere Geschichte von ihrer WG-Zeit mit Richard und ihrer Zusammenarbeit mit Professor Wieder erzählt. Was übrig bleibt ist, dass sie nach dem Tod ihres Professors die Chance einer Veröffentlichung kaltschnäuzig genutzt hat. Auch Derek Simmons, des Mordes an seiner Frau beschuldigt und Patient und Hausmeister von Wieder, erzählt seine Version der Geschichte, der damalige Polizist Roy Freeman, während der Ermittlungen damals aufgrund seiner Scheidung alkoholabhängig, berichtet von den Ermittlungen. Schließlich entscheidet Freeman, dass seine Recherche zu Ende ist und Katz kein Buch veröffentlichen wird. Mit der Diagnose Alzheimer belastet und der Meinung, etwas von damals wieder gutmachen zu müssen, recherchiert nun Ex-Polizist Freeman weiter, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Denn plötzlich gesteht ein Strafgefangener den Mord an Wieder. Roy glaubt dies jedoch nicht, spricht mit dem Gefangenen und Simmons, wühlt im Gestrüpp eigener und fremder Erinnerungen, bis er den Fall für sich als erledigt abschließen kann. 
Es ist faszinierend, wie es dem Autor gelingt, die Spannung aufgrund der zunächst als klar und deutlich dargelegten Erinnerungen Richards hochzuhalten, die sich im Laufe der Geschichte als subjektiv und manipulierbar darstellen. Schließlich verstricken sich drei Männer im Dickicht der Erinnerungen von anderen und ihren eigenen, die sie auf den Mordfall beziehen. Jeder erzählt seinen eigenen Part der Geschichte um Buch und Mordfall in drei abgetrennten Teilen. Dabei verlieren sich die Männer beinahe selbst, der Fall beeinflusst ihr Privatleben und ihr Umfeld. Ein einziges großes Puzzle entfaltet sich, und erscheint am Ende dennoch nicht gänzlich gelöst. Etwas Geheimnisvolles bleibt. Genau das macht den Thrill des Buchs aus. Unweigerlich beginnt man, selbst über Erinnerungen, was sie bedeuten, wie sie entstehen und wie subjektiv sie sind, nachzudenken. 
Das Cover mit dem gespiegelten Princeton-Gebäude, das durch den Farbverlauf zu verblassen scheint, symbolisiert das Ungreifbare der Geschichte.