Rezension

Was Wände erzählen

Das Flüstern der Wände
von Rebecca Michéle

Bewertet mit 5 Sternen

1940: Die Deutschen beginnen ihre Luftangriffe auf London. 
Robert Carlyon hat in Cornwall eine entfernte Cousine, die sich bereit erklärt, seine Familie aufzunehmen. Seine Frau Melanie wie auch sein Sohn Mikey sind nicht wirklich begeistert von der Idee, liegt das Landhaus Higher Barton so ziemlich in der Einöde. Seine Tochter Evelyn, Eve genannt, fühlt sich dort jedoch sofort wohl.
Helen, die Cousine, die sie aufgenommen hat, ist momentan allein mit ihrem Schwiegervater in dem großen Haus, da ihr Mann eingezogen wurde. Sie ist froh über ein wenig Gesellschaft und Hilfe auf dem Anwesen, denn ihr Schwiegervater wird von ihr nur versorgt, an dem Leben dort nimmt er jedoch nicht teil. Er bewohnt ein paar Räume im Haus und ist für alle mehr oder weniger unsichtbar.
Obwohl sich Eve dort wohlfühlt, ist sie beunruhigt. Nachts hört sie eine Stimme, die ihren Namen - Evelyn - ruft. 
Stimmt es, dass es sich um einen Geist handelt, von dem die Dorfbewohner erzählen? Wieso reagieren Helen und auch deren Schwiegervater eigenartig, wenn sie den Namen Evelyn in den Mund nimmt?
Eve kommt nicht zur Ruhe, sie will wissen, wer diese Evelyn war, die einst in diesem Haus wohnte...

Eve ist aufgeschlossen und neugierig. 
Als sie von dem Gerücht hört, dass auf Higher Barton ein Geist wandelt und da sie auch das Gefühl hat, dass jemand ihren Namen gerufen hat, will sie den Dingen auf den Grund gehen.
Sie ist begeistert von Higher Barton und fängt an, sich für die Geschichte des Anwesens zu interessieren. Dabei stößt sie auf den Namen Evelyn. 
Vor nicht ganz 100 Jahren lebte bereits eine Evelyn auf dem Anwesen, über deren Verbleib Vermutungen getuschelt werden.
Helen und auch der Lord reagieren ungehalten, als Eve sie nach der Evelyn fragt.

Aber nach und nach erschließt sich aus Erzählungen Evelyns Leben. 
Evelyn ist die Tochter eines Minenbesitzers, der nach dem Tod seiner Frau ein weiteres Mal geheiratet hatte. Die Frau brachte einen Sohn mit in die Ehe, den der Vater adoptierte und der später auch die Mine erben sollte. Aber im Gegensatz zu Evelyn, die jünger war, interessierte er sich so gar nicht für die Arbeit im Bergwerk, er gab das Geld lieber aus, das sein Adoptivvater verdiente. Evelyn war ganz die Tochter ihres Vaters und interessierte sich für die Mine, die Arbeiter und alles, was mit ihr zusammenhing. Sie war verantwortungsbewusst, stand für die Arbeiter ein und hätte liebend gern Bergbau studiert. Aber es war das Jahr 1850 und es war nicht üblich, dass Frauen studierten.

Die Autorin versteht es geschickt, das Leben in zwei Zeitebenen widerzuspiegeln. Die Zeitstränge verlaufen im Jahr 1850 und 1940. 
Im 19. Jh. geht es um die Geschichte von Evelyn, einer Frau, die nie die Chance bekam, das tun zu können, was ihr am meisten am Herzen lag. Sie ist eingefercht in die Zwänge des 19. Jh., obwohl sie noch das große Glück hatte, dass ihr Vater ihr zur Seite stand und sie an seiner Arbeit teilhaben ließ.

Im Jahr 1940 tobt der 2. Weltkrieg noch in vollem Umfang. London wird von Deutschland aus der Luft angegriffen und wer flüchten kann, tut das. Hier wird dem Leser ein kleiner Einblick in die Geschichte des Weltkrieges gewährt, dem Kampf ums tägliche Überleben, den Entbehrungen und Ängsten, denen die Menschen ausgesetzt waren.

Ein wunderbarer Roman, der mich fesseln konnte. 
Ich mag Geschichten, die sich auf mehreren Zeitebenen abspielen. Die Autorin hat mit den beiden Evelyns Protagonistinnen geschaffen, die für das einstehen, was sie lieben. Das Schicksal meinte es ungleich gut mit ihnen, aber sie haben Wünsche und Hoffnungen, für die sie leben und für die sie alles tun.
Ich mochte beide Protagonistinnen sehr und konnte mich gut in sie hineinversetzen.
Das Buch bringt dem Leser nicht nur ein wenig Geschichte nahe, es ist auch spannend geschrieben. Natürlich möchte man wissen, wie es Evelyn ergangen ist, ob sie der "Geist" ist, der Eve ihren Namen zuflüstert oder was es damit auf sich hat. Obwohl ein wenig vorhersehbar, war die Geschichte zu keiner Zeit langweilig, ganz im Gegenteil. Mich ließ sie nicht los, ich musste einfach weiterlesen.   

Ich empfehle das Buch sehr gern weiter.