Rezension

Was wäre wenn ... ?

Marthas Widerstand - Kerry Drewery

Marthas Widerstand
von Kerry Drewery

Bewertet mit 3.5 Sternen

Martha hat Jackson Paige erschossen; so sieht es jedenfalls aus. Sie flüchtet nicht, lässt sich festnehmen, denn hier geht es ums Prinzip. Ein politisch motivierter Mord also? Auf jeden Fall stellt der Leser fest, dass sie einem erbarmungslosen Justizsystem ausgesetzt ist, in dem unparteiische Gerichte abgeschafft wurden und eine Show namens "Death is Justice" per manipuliertem Zuschauervoting über das Schicksal von Schuldigen und Unschuldigen entscheidet. Sieben Tage bleiben Martha bis zu ihrer voraussichtlichen Hinrichtung, von denen sie jeden in einer anderen von insgesamt sieben Todeszellen zubringen muss. Während die Sechzehnjährige in diesen Tagen der seelischen Folter versucht, ihr achterbahnfahrendes Kopfkino zu beherrschen, kämpfen draußen verzweifelt ein paar ihrer Freunde einen aussichtslosen Kampf um ihr Leben.

Ein Wahnsinnsthema. Und seit dem Auftreten eines gewissen amerikanischen Präsidenten, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, allen demokratischen, ethischen und freiheitlichen Errungenschaften der Neuzeit den Garaus zu machen, auch erschreckend aktuell. Mir gefallen allerdings Geschichten nicht, die Fronten betonieren anstatt sie in Frage zu stellen. Das ist zum Beispiel eine grandiose Stärke der "Panem"-Trilogie, dass sie dieser Falle entgeht. Frau Drewery hingegen scheint zwischenzeitlich voll reinzutappen.

"Alles muss entweder schwarz oder weiß sein." Das Buch macht leider genau den Fehler, den es kritisiert. Wobei die Gefahr, dass so eine Verkehrung von Gerechtigkeit in unserer Welt passiert, tatsächlich zum Greifen nah ist. "Dadurch, dass sie gegen unsere Gesetze verstoßen haben, haben die Gefangenen das Recht auf ihre Privatsphäre eingebüßt." Das Frappierende daran ist, dass es eine ganze Menge Kleinzeitgeister gibt, die tatsächlich genauso denken und sich eine solche Justiz wünschen. Allerdings: Diktaturen hat es schon immer gegeben, denn um nichts anderes handelt es sich ja in dieser dystopischen Geschichte: um eine Diktatur, die sich wie schon so oft als Volkes Wille tarnt. Gleichgeschaltetes Fernsehen, korrupte Polizei, und eine unabhängige Justiz ist nicht mehr vorhanden. Das Neue und Erschreckende in unserer heutigen westlichen Gesellschaftsentwicklung ist ja, dass es gewisse kultur-und geschichtsvergessene rechte Ecken gibt, die sich eine solche abartige Gesellschaft herbeizusehnen scheinen, und die sich offensichtlich bedrohlich vergrößern. Einiges, was man da an unmenschlichen Äußerungen liest, kommt einem irgendwie aus den sozialen Netzwerken gruselig vertraut vor. Dennoch sind es bei uns bisher nur die "Ecken". Zwar gibt es eine Menge subtiler Manipulation in der heutigen Berichterstattung, und doch ist der Journalismus bei uns insgesamt noch sehr frei, ist die Justiz noch ziemlich unabhängig, gibt es eine Menge Korrektive, die verhindern, dass das System ins Extrem abdriftet. Und was ich überhaupt nicht mag, an Dystopien ebensowenig wie an geschichtsverfälschenden historischen Romanen - ganz unterschwellig schleicht sich beim Leser oft ein Bild im Kopf ein, genauso müsse es abgelaufen sein bzw. genauso würde es sich aktuell entwickeln.

Aber interessant ist es ja schon und gibt zu denken, dass als Motto dieses sogenannten Rechtssystems, das unschuldige Menschen auf dem Gewissen hat, das sich für wirkliche Beweise nicht interessiert, keine Verteidigung erlaubt, ausgerechnet "Auge um Auge" ausgewählt wurde (Jesus von Nazareth erklärte dieses alte System von Sühne und Rache bereits vor zweitausend Jahren für überholt). Es ist ein gelungener Coup der Autorin, dass sie hier einen Finger in die Wunde eines gewissen urteilsfreudigen Zeitgeistes legt. Aber leider trägt sie dabei manchmal einfach viel zu dick auf. Angefangen bei: "Ein schlanker Mann Mitte dreißig, mit einer perfekt sitzenden Frisur und einem strahlenden Zahnpastalächeln." Ach ja, und dann natürlich noch die obligatorisch am Handgelenk blitzende unbezahlbare Uhr... Auf diese Weise in Gut und Böse einzuteilen (ich höre schon meine geistig umnebelte Mit-Twitterer-Gemeinde "Establishment!!!" brüllen...), finde ich genauso gefährlich wie die Sehnsucht gewisser politischer Kräfte nach genau so einem wie in dem Buch beschriebenen Auge-um-Auge-System.

Die Reality-Show wird für meinen Geschmack zu ausführlich zelebriert. Jedes Logo, jeder Schriftzug, jedes Abendkleid der sadistischen Moderatorin wird genau beschrieben, und wenn man glaubt, es geht nicht menschenverachtender, wird noch eine Plattheit draufgesetzt. Und dann gibt es in dieser Geschichte einfach zu viele Koinzidenzen. Der skrupellose Paige hat nämlich nicht nur Marthas Mutter auf dem Gewissen, sondern auch noch Ollie, Marthas besten Kumpel aus der Vorstadt, der an Paiges Stelle vom System für den Mord abgeurteilt und hingerichtet wurde. Und dann ist da auch noch Isaac, der geheimnisvolle Mann in Marthas Leben; dieser ist nämlich ... oh, aber jetzt spoilere ich zu viel.

Die Schilderungen der chaotischen Gedankengänge der zum Tode Verurteilten aus der Zelle sind bedrückend und glaubwürdig, aber die zahllosen Rückblenden, die etwas Licht in die Angelegenheit bringen sollen, sind manchmal ein bisschen langatmig, und das mit dem Philosophieren liegt der Autorin auch nicht immer so. Allerdings: wenn die beiden Verliebten dann am Lagerfeuer sitzen und den Sternenhimmel betrachten, das ist schon schön geschrieben, da gibt es nichts.

Teilweise wirkt einiges arg konstruiert. Zwischendurch verliert man auch schon mal ein wenig den Überblick, wer eigentlich was vorhat und überhaupt. Dabei ist es aber immer wieder auch interessant, dass die Geschichte bestimmte kranke Ideen auf die Spitze treibt und zeigt, was aus diesen letztendlich, konsequent verfolgt, werden könnte. Ein spannendes und brutales Gedankenexperiment, wenn auch teilweise sehr abgedreht und surreal. Aber in Diktaturen ist eine Menge möglich. Und auch unser großer Führer Trump hat auch noch nicht alle seine Trümpe aus dem Ärmel gezogen - hoffen wir, dass ihn sein Volk noch rechtzeitig aus dem Amt entfernen kann.