Rezension

Wenn eine Figur aus einem Gemälde plötzlich auf deinem Sofa sitzt

Die Ermordung des Commendatore 01 - Haruki Murakami

Die Ermordung des Commendatore 01
von Haruki Murakami

Bewertet mit 5 Sternen

Als der namenlose junge Maler von seiner Frau verlassen wird, nutzt er die Gelegenheit, um an einem neuen Ort neu zu beginnen. Zuvor hatte er seinen Lebensunterhalt relativ bequem  mit  Porträts verdient  für Kunden, die ihm ein Vermittler verschaffte.  Er erwartete von seinen Modellen nur ein Vorgespräch  und ein paar treffende Fotos, sie brauchten ihm nicht Modell zu sitzen und waren stets mit dieser Regelung zufrieden.  Die Stärken des Künstlers sind sein gutes visuelles Gedächtnis und seine Fähigkeit, die Persönlichkeit seiner Modelle intuitiv zu erfassen. Nachdem er jahrelang gefällig gemalt hat, um seine Auftraggeber zufrieden zu stellen, könnte er nun endlich malen, was er selbst für wesentlich hält. Weil das Elternhaus eines Kommilitonen und Künstlerkollegen leer steht (der Vater von Masahiko Amada lebt dement in einem Heim) findet Murakamis namenloser Icherzähler dort als Haussitter eine günstige Unterkunft. Er kann sogar das ehemalige Atelier des alten Herrn Amada nutzen und erhält von Masahiko den Tipp, im Ort Malkurse zu geben. Das für japanische Verhältnisse luxuriöse Haus zieht er sich an wie einen Handschuh, schlüpft damit quasi  ins Leben des älteren Berufskollegen. Wenn der Maler von seiner Ex-Frau erzählt und auch von seiner früh als Kind verstorbenen Schwester, stellt er in bildhafter  Weise Perspektiven und Bezüge dar, die sich deutlich von der Sichtweise anderer Menschen unterscheiden.  Die überraschende Trennung von seiner Frau erklärt er sich damit, dass er die Entwicklung ihrer Beziehung und darin einen toten Winkel  übersehen hat. Auf dem Dachboden des abgelegen in den Bergen gelegenen Hauses entdeckt er ein - einziges - sorgfältig verpacktes Gemälde des  Hausherrn, die Duellszene „Die Ermordung des Commendatore“, das prompt seine intensive Auseinandersetzung mit der Biografie des Älteren anregt. Amada Senior hatte vor 1939 in Europa gelebt und der Grund für seine Rückkehr liegt bisher noch im Dunklen.  Wer sich an „Mister Aufziehvogel“ erinnert und dessen Bezug zur japanischen Besetzung der Mandschurei, wird  in diesem Buch vermutlich auf einen Bezug zu historischen Ereignissen während des Nationalsozialismus warten.

In der Gegenwart taucht beim Porträtmaler Herr Wataru Menshiki auf, der ein Porträt in Auftrag gibt und das  frei vom  wirtschaftlichen Zwang für den Künstler, dem Kunden gefällig sein zu müssen.  Der Mann erzählt viele und scheint wenig von sich preiszugeben. Ähnlich wie die Trennung von Yuzu, der Maler-Ehefrau, wirkt die Begegnung mit Menshiki als Katalysator für einen Neubeginn im Leben des Icherzählers. Der geheimnisvolle Nachbar verkörpert jedoch auch die größte Angst des Malers,  das Wesen seines Modells nicht zu erfassen und zum beruflichen Scheitern verurteilt zu sein. Menshiki heisst im Japanischen wörtlich Bekannter, die Schriftzeichen für sich genommen bedeuten „Farbe vermeiden“.  Die Möglichkeit im Chinesischen und Japanischen die Bildbedeutung der Schriftzeichen quasi auf einer zusätzlichen Tonspur für Anspielungen zu nutzen, ist europäischen Lesern schwer zu vermitteln.  Am ehesten ließe sie sich mit dem Cockney-Englisch vergleichen, das beim Zuhörer voraussetzt, Doppeldeutigkeiten bereits zu kennen oder blitzschnell zu erfassen. Wenn einem Maler ein  Herr „Farbe-Vermeiden“ als Gegenspieler entgegentritt im Haus eines prominenten Malers mit uns unbekannter Vergangenheit, setzt das bei mir eine Kette von Assoziationen in Gang. Was wäre, wenn dem Maler die Farbe fortgenommen würde? Was verbindet die beiden Männer,  was fehlt in ihrem Leben? Frauen sind im Leben der Herren  früh verstorben, treten als Schülerin oder Geliebte auf oder sie  sind wie die  jüngere Schwester für die Verbindung in die Welt der Magie zuständig. Warum bleibt der Name des Malers ungenannt, der als Icherzähler doch so freimütig von sich erzählt? Warum drängt sich der Nachbar rücksichtslos ins Leben des Porträtmalers? Ist der Haussitter  die Achillesferse, um sich ein zweifellos wertvolles Grundstück unter den Nagel reißen?  Schließlich taucht auf dem Sofa des Malerhaushalts in Kindergröße der „Commandatore“ aus dem Gemälde auf. Eine „Idee“  ist aus einer Parallelwelt getreten und könnte den  Souffleur geben. Ob nicht sichtbare Dinge auf diese Weise real werden können,  ist zumindest eine amüsante Frage. Als vertraute Murakami-Motive grüßen neben einem Protagonisten auf Ichsuche die Rückblende in die Geschichte, das Kochen, Jazz, unterirdische Räume und diffuse Verfolgungsgefühle.

Fazit

Da Murakamis Romane längst ein eigenes Genre bilden, erübrigt es sich m. A.  „Die Ermordung des Commendatore“ als Künstlerroman zu bezeichnen.   Die Verbindung zwischen dem opaken Buchumschlag (der nur Ausschnitte des Buchdeckels freigibt) mit dem blinden Fleck des Malers für den Zustand seiner Ehe,  mit Farblosigkeit, der spirituellen Bedeutung von Bergen und Wald in Japan und schließlich dem Tod im Leben der beiden Hauptfiguren ist jedenfalls faszinierend genug, um ungeduldig auf den zweiten Band zu warten, der im April erscheint.

Das Handwerkliche

„Die Ermordung des Commendatore“ besteht aus einem Bucheinband frei von Text, einem opaken Schutzumschlag, der wie durch ein Bullauge den Blick auf den regenbogenfarbigen Buchdeckel freigibt, einem dunkel gefärbten Schnitt und einem Lesebändchen in edlem Dunkelrot. Neben dem Aufwand  fürs Äußere finde ich den wahren Luxus im Inneren des Buches: ein harmonisch wirkender Satzspiegel, lesefreundlicher Kontrast von Papierfarbton und Schrift und eine Bindung, die das Buch aufgeschlagen liegen bleiben lässt, ohne dass die Seiten tun was sie wollen …