Rezension

Wer ist Karl?

Leinsee
von Anne Reinecke

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn unbekannte Namen beim Diogenes Verlag erscheinen, so darf man neugierig sein, denn der Verlag bewies schon oft ein feines Händchen bei der Entdeckung vielversprechender Autoren. Und nach der Lektüre des Debüts von Anne Reinecke steht nun für mich fest: hier war es ebenso.

In diesem Roman geht es im Wesentlichen um Karl, einen gerade einmal 26 jährigen Mann, der mit seiner acht Jahre älteren Freundin in Berlin lebt und sich bereits als Künstler einen Namen gemacht hat. Doch zuallererst begegnet der Leser Karl in einem Zug, in dem er sitzt, nachdem er die Nachricht von der Tragödie erhalten hat. Der Vater tot, erhängt, am Lampenhaken, im Salon, in Leinsee. Die Mutter Notoperation, Hirntumor, kaum Überlebenschancen. Der Sohn nun auf dem Weg, zurück, in die Vergangenheit, dorthin, wo er seit sieben Jahren nicht mehr war.

In Leinsee angekommen, erfährt Karl, dass seine Mutter die Operation wider Erwarten überstanden hat. "Karl zog die Nase hoch und freute sich über die Unberechenbarkeit seiner Mutter." (S. 15 f.) Doch sein Vater ist unwiderruflich tot - unerträglich war diesem der Gedanke, künftig ohne seine Frau weiterleben zu müssen. Ada und August Stiegenhauer, das berühmte Künstlerpaar, August und Ada, die Unzertrennlichen, die sich selbst stets genug waren. So eng die Verbindung zwischen den beiden, dass auch für ein Kind nie wirklich Platz war. Karl, der einsame Junge, der mit 10 Jahren in ein Internat verbracht wurde, inkognito, um unbelastet von dem berühmten Namen seiner Eltern aufwachsen zu können. Nun Halbwaise, einen Abschiedsbrief des Vaters in der Hand.

"Er atmete aus, rollte sich in den Sessel und trank. Er hielt die Augen geschlossen, befühlte das Papier in seiner Hemdtasche und ließ sich vom Raum hin- und herwiegen." (S. 22)

Je länger Karl in der großzügigen Villa seiner Eltern bleibt, desto mehr scheint die Zeit stillzustehen. Erinnerungen, schmerzhaft oft, das mühsame Heraufbeschwören einzelner Bilder, in denen es einen Kontakt wenigstens mit seiner Mutter gab, das Gesicht des Vaters bereits verloren. Karl wirft die Möbel aus seinem ehemaligen Zimmer und baut sich ein Nest zum Schlafen. Er trinkt viel, streift durch das Atelier seiner Eltern und lässt die Gespenster der Vergangnheit ein. Bis er ein kleines Mädchen im Kirschbaum entdeckt: Tanja.

Das achtjährige Mädchen ist einfach da, immer wieder, unbeschwert und willensstark, und Karl lässt sich auf ihr Spiel ein, erfreut sich an ihren kleinen Geschenken und erwidert diese, hängt Überraschungen in den Kirschbaum und genießt die Anwesenheit des Kindes. Tanja scheint das einzig Konstante in seinem Leben zu sein, in dem nun alles ins Wanken geraten ist.

"Von allen Fehlern, die er gemacht hatte, schien ihm das auf einmal der schimmste zu sein, von allen Problemen das schwerste und von allen Traurigkeiten die tiefste. Das war natürich völlig absurd, nüchtern betrachtet, aber Karl fühlte sich nicht nüchtern, Karl fühlte sich falsch und durchsichtig." (S. 220)

Wer ist Karl? Dieser Gedanke drängt sich bei der Lektüre zwangsläufig auf. Und er selbst weiß es wohl am allerwenigsten. Desorientiert folgt er in Leinsee dem 8jährigen Kind hinterher, fühlt sich wohl, wenn er Tanjas Blicke im Nacken spürt, wie unwirklich übernimmt er aber auch die Rolle seines Vaters, für den ihn seine Mutter nach der Gehirnoperation hält, lässt sich treiben und alles geschehen, so widersinnig es auch sein mag. Karl ist auf der Suche nach sich selbst, nach seiner Kunst, nach seinem Leben. Und im Mittelpunkt dieser Suche steht Tanja, bei der er einfach sein kann, wie er ist. Doch wie lange wird sie da sein?

"'Weißt du, Karl, (...) die gute Nachricht (...) ist: Es wird jetzt nicht mehr schlimmer werden. Ab jetzt wird es nur noch besser.' Karl zuckte mit den Schultern und drückte seine Zigarette aus (...) Wenn man den Gedanken allerdings zu Ende dachte, war er falsch. Denn dass es beser würde, müsste bedeuten, weniger an Tanja zu denken. Und weniger an Tanja zu denken konnte unmöglich besser sein, denn die Gedanken an Tanja waren ja das Beste, was er noch hatte, und, ach, egal, es war sowieso alles falsch..." (S. 356 f.)

Doch weshalb nun die fünf Sterne, die ich wahrlich nicht häufig vergebe? Zuallererst ist es die Sprache, die mich hier mitgerissen hat, der ganz besondere Schreibstil, behutsam und poetisch zuweilen, dann wieder wuchtig und gewaltig, aber stets ungemein bildhaft. Überhaupt strömt hier eine schöpferische Kraft durch die Zeilen, die ihresgleichen sucht. Kunst spielt hier natürlich eine große Rolle, zwangsläufig, wo Karl doch ein bekannter Künstler ist und seine Eltern berühmt sind für ihre Kunstwerke, aber die Schilderungen der Autorin sind eben auch kleine Kunstwerke, die Bilder und Farben erstrahlen lassen, die Wortneuschöpfungen kreieren ('der Vaterbrief', 'das Fiepsen des Mutterpulses' oder 'ein klebriges Plastikbechereis'), und die alle Sinne ansprechen: das Sehen - das, wenn es in reiner Form unterträglich wird, auch gerne über Spiegelbilder oder, noch abstrakter, durch ein Opernglas erfolgt -, das Hören - die kleinen Wellen des Sees, die ans Ufer schlagen, die Schwalben, die über den Abendhimmel jagen - oder auch das Riechen - Tanja riecht beispielsweise meist nach Honig und Basilikum.

Ein besonderes Vergnügen haben mir in diesem Roman die Kapitelüberschriften bereitet, die allesamt Farbbezeichnungen sind, aber eben in besonderen Nuancen: Kanarienvogelgelb - Regentageblau - Klirrsilbern - Kaugummigrau oder Föhnblond sollen hier als Bespiele genügen. Dabei beziehen sich die Überschriften stets auf den Inhalt des nachfolgenden Kapitels, und ich war jedesmal gespannt, auf den Zusammenhang zu stoßen. Oftmals gibt es konkrete Gegenstände, denen die Farbbezeichnungen geschuldet sind, manchmal gibt es aber auch herrlich schräge Zusammenhänge, z.B. in dem Kapitel 'Gottweiß':

"'Gott weiß', das hatte der Vater schon immer gesagt. Immer schon, obwohl er überhaupt nicht religiös gewesen war. Als Kind hatte Karl geglaubt, das sei eine Farbe: allerweißtestes Weiß, die Bartfarbe Gottes oder so." (S. 39)

In jedem Fall ist dies ein Roman, der sich in keine Schublade stecken lässt. Eine Erzählung über eine verlorene Kindheit, über eine Selbstfindung, über eine Liebe, über Loslassen und Ankommen - und über Farben. Die Bilder von einer verrückten Teeparty, von einer riesigen Schneekugel und einer Taube im Käfig werden mich wohl noch eine Zeitlang begleiten - und vor allem hat mich der Roman mit einem Lächeln entlassen. Was will man mehr?

Ein Roman, der sich in keine Schublade stecken lässt. Eine leise Erzählung von ungeahnter Wucht, voller Farben und Poesie. Einfach schön! Ich gratuliere Anne Reinecke zu ihrem ersten großen Wurf und hoffe sehr, bald mehr von dieser Neuentdeckung lesen zu können!

© Parden

Kommentare

LySch kommentierte am 19. März 2018 um 00:01

Wow, deine Rezi trifft alles, was ich an diesem Roman so sehr schätzte, genau auf den Punkt! Toll! :)
Mir hat nur leider die Entwicklung am Ende nicht gefallen, deswegen habe ich einen Stern abgezogen... Aber die Sprache, die Bilder, das Poetische - da bin ich ganz bei dir! :)

Sibylle P. kommentierte am 20. März 2018 um 19:38

Eine wundervolle Rezension! Ich fand diesen Roman auch so schön.

parden kommentierte am 25. März 2018 um 10:10

Oh, vielen Dank für Eure netten Kommentare hier! ☺