Rezension

Wer zu viel hat... hat trotzdem nie genug

Winterkrieg - Philip Teir

Winterkrieg
von Philip Teir

Finnland ist dieses Jahr der Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse und soweit ich mich entsinnen kann, habe ich noch nie ein Buch eines finnischen Autors gelesen. Eine schöne Gelegenheit also, mir mal die dortige Literatur ein wenig anzuschauen und schließlich bin ich bei Philip Teirs „Winterkrieg“ gelandet, das als „DER finnische Gesellschaftsroman“ des Jahres gehandelt wird.

Die Hauptfigur in „Winterkrieg“ ist der Soziologe Max Paul mit seiner Familie. Da wären die Ehefrau Katriina und die Töchter Helen und Eva und Helens Mann Christian samt den Enkelkindern. Im Laufe des Romans erlebt Max seinen 60. Geburtstag im Kreise der Familie. So weit, so gut. Die Familie hat genug Geld und zunächst keine nennenswerten Probleme außer einigen nervigen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Doch nach und nach bröckelt diese Fassade. In ständigen Perspektivwechseln erfährt der Leser von allen Personen der Familie die wahren Geschichten hinter der Vorzeigefamilie. Aber – das darf an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden – es geht hier nicht um irgendwelche schrecklichen Familiengeheimnisse oder so. Vielmehr handeln diese Geschichten vom ganz persönlichen Scheitern, vom Aufgeben der eigenen Träume, von Ignoranz in der Partnerschaft und vor allem zeugen sie von einer beinahe ekelerregenden Konsumübersättigung aller Beteiligten. Jemand, dem alle Möglichkeiten offen stehen, der sich alles kaufen und alles haben kann, der wird immer nur nach der einen Sache streben, die er nicht haben kann und daran zerbrechen, dass er sie nicht bekommen wird. In Max Fall ist das meiner Meinung nach die Zufriedenheit. Er flüchtet sich in sozialphilosophische Ansichten, die er immer und immer wieder propagiert, anstatt sie auf sein eigenes Leben zu übertragen. Katriina dagegen ist immer darum bemüht, die Fassade der fröhlichen Familie aufrechtzuerhalten, obwohl sie kaum weiß, wie sie den nächsten Arbeitstag überleben soll. Helen und ihr Mann führen ein langweiliges spießiges Leben, das von Neid und Missgunst geprägt ist, sobald der andere mal etwas Schönes erlebt. Und Eva ist einfach so überfordert mit den Möglichkeiten, die das Leben ihr bietet, dass sie immer nur vor konkreten Verpflichtungen flüchtet.

Zu Beginn habe ich mich etwas durch das Buch gekämpft. Ich hoffte, dass die Figuren sich nicht in allzu klischeehafte Richtungen entwickeln würden, was aber zum Glück nicht der Fall war.

Vielmehr bekam ich immer mehr das Gefühl, dass Philip Teir ein erschreckend detailgetreues Gesellschaftsbild zeichnet, das sich nicht nur auf Finnland, sondern auf den gesamten Mittelstand der westlichen Welt bezieht. Das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht und aus diesem Prozess bin ich auch noch nicht herausgekommen. Manchmal muss man mit der Nase darauf gestoßen werden, um sich selbst und das eigene Umfeld mal „von außen“ zu betrachten und sich zu überlegen, ob man selbst nicht auch solche Tendenzen zeigt zum ständigen Unzufriedensein, zur Undankbarkeit. Und wenn man diesen Schritt genommen hat, ist man schon viel weiter als Max und Katriina Paul es jemals sein werden.

Das einzige, was ich ehrlich gesagt nicht verstanden habe, ist der provokante Titel des Romans. Der Winterkrieg war der finnisch- sowjetische Krieg während des 2. Weltkriegs, aber ich empfinde den Titel bezogen auf die Studie einer Familie irgendwie… übertrieben. Auch wenn sie sich scheinbar ständig alle im Krieg mit sich selbst befinden. Falls einer von euch das verstanden hat, darf er es gerne in die Kommentare schreiben, vielleicht habe ich ja auch bloß irgendeinen Zusammenhang vergessen.

Ein Stern Abzug gebe ich wegen des meiner Meinung nach viel zu langen Einstiegs in die Geschichte. Ich verstehe, dass der Autor einen schleichenden Prozess zeigen möchte, allerdings schlich das Buch am Anfang beinahe unerträglich langsam dahin. Falls ihr es also lest: Lest über Seite 150 hinaus. Erst ab dann hat es mich wirklich gepackt.

Ein großer Roman, der mich überrascht hat und den ich anders erwartet habe. Aber einer, der mit den großen Literaten dieser Welt spielend mithalten kann in seiner Detailgenauigkeit und Schärfe der Darstellungen, zum Beispiel bezogen auf die Egomanie dieser übersättigten Generation, die Teir an vielen sehr eindrucksvollen „Alltags“beispielen zeigt. Zynismus und bitterer Ernst geben sich hier die Hand. Lesen!