Rezension

Wie wird man ... stärker?

Nachtblumen - Carina Bartsch

Nachtblumen
von Carina Bartsch

Bewertet mit 5 Sternen

Worum geht es?

Überfordert und von der Vergangenheit gezeichnet muss Jana von jetzt auf gleich ein neues Leben auf Sylt beginnen. Sie ist nun Teil eines Wohnprojekts, das es sich zum Ziel gemacht hat, jungen Menschen mit problematischem Hintergrund eine Perspektive zu geben. Wie erschlagen ist sie von den vielen neuen Eindrücken - der Arbeitsstelle, dem schweren Schulstoff und selbstverständlich den vielen neuen Menschen. Sie trifft auf das liebenswürdige Ehepaar Völkner, das dieses Wohnprojekt ins Leben gerufen hat, die zickige Vanessa, die es ihr schon zu Beginn schwermacht, den freundlichen Lars, der Stimmungsschwankungen unterliegt, die herzliche Dr. Flick, die völlig anders ist, als Janas es von Therapeuten gewohnt ist, und den verschlossenen Collin, mit dem sie sich ein Bad teilt, der gerne friert und dessen ruhige Art sie seine Nähe suchen lässt. Bald hat Jana nicht nur mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen, sondern mit der Zeit fragt sie sich auch, was Collin zu dem Menschen gemacht hat, der er ist.

Meine Meinung

»Vielleicht ist es manchmal gut, dass man nicht weiß, wie etwas ausgeht, weil es sonst niemals bunt werden könnte.« (S. 21)

Ich habe in diesem Jahr schon viele gute Bücher gelesen und mit Nachtblumen ist ein weiteres dazugekommen. Carina Bartschs erste Romane, Kirschroter Sommer und Türkisgrüner Winter, habe ich vor etwa zwei Jahren verschlungen und stießen bei mir - wie bei vielen anderen auch – auf Begeisterung, weshalb ich auf Nachtblumen regelrecht hinfieberte. Und ich wurde nicht enttäuscht, dafür aber überrascht.

Nachtblumen ist von Grund auf anders als Bartschs andere Romane. Man hat es hier nicht mit einem lockerleichten Liebesroman mit witzigen Schlagabtäuschen und gelöster Atmosphäre zu tun, sondern mit einem bewegenden Roman zu einem ernsten Thema, auf dem stets eine gewisse Schwere und bedrückende Stimmung liegt. Die Bücher könnten somit gar nicht unterschiedlicher sein.

»Die unvergesslichsten Momente im Leben sind immer jene, in denen man sich selbst überrascht.« (S. 157)

Was sie gemeinsam haben, ist Bartschs wunderbarer Schreibstil. Sie beschreibt Umgebung und Figuren so malerisch, dass man sie sich vorstellen kann und nicht das Bedürfnis hat, diese beschreibenden Passagen, die ja oft zäh sein können, zu überfliegen. Sie baut Umschreibungen von Dingen ein, die Jana betrachtet, wenn sie nachdenklich aus dem Fenster ihrer Therapeutin sieht, und die ihre grüblerische Stimmung untermalen, aufwühlende Schilderungen von albtraumhaften Erinnerungen aus Janas Vergangenheit sowie Beschreibungen von Collins faszinierenden Zeichnungen, die man sich als Leser vor Augen rufen kann, als würde man sie tatsächlich betrachten. Bei alldem geht Bartsch mit Feinfühligkeit und Geduld vor, die für den Ernst des Themas angemessen sind und die Entwicklung der Protagonistin glaubwürdig gestalten. Janas Gefühle werden glaubhaft, nachvollziehbar und ehrlich an den Leser herangetragen, sodass man sich in sie hineinversetzen und mit ihr leiden, lachen und fühlen kann. 

Wer eine turbulente, handlungsreiche Geschichte erwartet, wird schnell enttäuscht, denn das Tempo des Buches ist ruhiger und der Fokus stark auf die Gefühlswelt der Protagonistin gelegt. Ich kann verstehen, dass das nicht jedem gefällt, aber mir erschien dieser Umstand zu keiner Sekunde langweilig, denn die nötige Spannung wird dadurch eingebunden, dass man nicht von Anfang an und auch relativ lange danach nicht weiß, was Jana, Collin und die anderen Figuren an Ballast mit sich herumtragen. Man möchte unbedingt herausfinden, welche einschlagenden Erlebnisse sie zu dem Menschen gemacht haben, der sie sind. Vor allem bei Collin, dessen Art schon zu Beginn Rätsel aufwirft, war dieser Wunsch stark ausgeprägt, aber auch Janas Geschichte ist unglaublich interessant, überzeugend und bewegend dargelegt.
Um falschen Erwartungen schon mal gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen: Über alle anderen Charaktere erfährt man leider nur sehr wenig, obgleich das Interesse des Lesers durch Andeutungen geweckt wird. Hier haben mir leider Hintergrundgeschichten zu den Randfiguren gefehlt, die mit Sicherheit auch interessant gewesen wären.

»Vielleicht war das die wahre Kunst im Leben. Niemals das Gute an sich in Frage zu stellen, sondern lediglich bei der Wahl der Personen, denen man es zuteil werden lässt, besser aufzupassen.« (S. 248)

Wegen der fehlenden Dynamik der Handlung sind es die Charaktere, die die Geschichte tragen. Jana und Collin sind jedoch so interessant gestaltet, das sie dies mit Bravur tun.
Anders, als es beispielsweise bei Kirschroter Sommer der Fall ist, hat man es bei Jana nicht mit einer starken, jungen Frau zu tun, die stets einen schlagfertigen Spruch auf den Lippen trägt und ihrem männlichen Gegenpart ständig Kontra gibt. Bei ihrer Vorgeschichte wäre das überhaupt nicht realistisch. Sie hat nachvollziehbare Gründe dafür, warum sie unsicher, schüchtern und verschlossen ist. Sie schläft unter dem Bett, trägt nur langärmelige Kleidung und trifft zum Anfang des Buches ihre neue Therapeutin, womit sich dem Leser gleich die ersten Fragen zu ihrer Vorgeschichte aufdrängen. Anfangs wirkte sie auf mich viel jünger als neunzehn, was sich mit dem Voranschreiten der Seitenzahl jedoch merklich besserte. Ihre unsichere Art zieht sich jedoch lange durch das Buch, was die Authentizität des Erzählten unterstreicht: Es wird keine unrealistische Charakterentwicklung der Hauptfigur gezeichnet, die schnell ihre Schüchternheit überwindet und zu einer schlagfertigen Frau mutiert, sondern Jana entwickelt sich in kleinen, realistischen Schritten zu einer stärkeren Persönlichkeit. Jedes Mal, wenn sie sich zu etwas Neuem überwand, stieg meine Sympathie für sie.

Collin ist ebenfalls völlig anders als typische männliche Protagonisten in Liebesromanen. Er ist nicht schüchtern, aber distanziert und zurückgezogen, lieber mit sich allein als mit anderen Menschen und reagiert auf Versuche anderer, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen, meist wortkarg. Er begegnet vielem sehr gleichgültig und konzentriert sich lieber auf seine Zeichnungen. Ist er am Anfang wirklich schwer zu knacken, so gelingt es Jana nach und nach ihn ein wenig aufzutauen. Hauptsächlich Collin ist es, der Spannung in die Geschichte bringt, denn vor allem sein Geheimnis ist es, das es aufzudecken gilt und einem immer wieder Rätsel aufwirft. Er war mir trotz oder gerade wegen seiner schwer einzuschätzenden Art der liebste und interessanteste Charakter in dem Buch.

»Das war das Schlimme am Verliebtsein. Obwohl man wusste, dass man gleich wieder in genau jenen Scherben stehen würde, trat man trotzdem hinein.« (S. 467)

Die Unterhaltungen, die Jana und Collin schließlich miteinander führen, sind stets berührend, tiefschürfend und intensiv, und auch als Leser kann man so seine Lehren aus ihnen ziehen. Die Figuren wählen ihre Worte klug und bedacht, sodass ich immer wieder überrascht war, was für einfühlsame Worte die Autorin für ihre Figuren und deren Probleme findet. Sie treffen direkt ins Herz und lösten bei mir nicht selten Gänsehaut aus. In eben diesen Momenten baut sich langsam die Liebesgeschichte auf, die sich ebenfalls von anderen abhebt und erwartungsgemäß nicht frei von Problemen ist. Jana versucht Collins Mauern einzureißen, hat dabei (und mit ihrer eigenen Vergangenheit) ordentlich zu kämpfen und wächst daran. Das Annähern der beiden finde ich nachvollziehbar – weder zu schnell noch zu langsam – und die weitere Entwicklung hat mir stellenweise ein Lächeln auf die Lippen gezaubert, mich aber auch bedrückt und aufgewühlt. 

Auch viele der Nebencharaktere, über deren Vorgeschichte man leider nur Bruchstücke erfährt, sind an dieser Stelle noch erwähnenswert. Lars, die Völkners und Dr. Flick sind neben Collin Charaktere, die eine wichtige Rolle in Janas Entwicklung einnehmen und bei denen man gar nicht anders kann, als sie ebenfalls sympathisch zu finden. Mir hat es gut gefallen, dass sich in dem Buch nicht alles nur um Jana und Collin gedreht hat, sondern auch viele andere Figuren und ihre Beziehung zu Jana eine wichtige Rolle darin gespielt haben. Dr. Flick ist ein Charakter, den ich ganz besonders hervorheben möchte, denn sie ist wirklich etwas Besonderes. Mit ihrer herzlichen und lockeren Art war sie eine ganz wichtige Bezugsperson für Jana, vielmehr beste Freundin als wirkliche Therapeutin. Die Momente mit ihr haben mir viel Spaß gemacht und immer ein Lächeln auf die Lippen gezaubert.

»Einen Fehler zu begehen dauerte nur wenige Sekunden – um ihn zu bereuen, hatte man den Rest seines Lebens Zeit.« (S. 475)

Mitunter mischen sich Zeitsprünge, die dazu beitragen, dass das Buch einen enormen Zeitraum von insgesamt sechs Jahren umfasst. Diese sind stellenweise ein wenig störend, da man das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben, aber für die Geschichte gewissermaßen notwendig, um die Charakterentwicklungen glaubwürdig und für die Vorgeschichten angemessen darzustellen. Obgleich das Buch viele Seiten umfasst, habe ich leider das Gefühl, dass viele Fragen offen bleiben, die ich gerne beantwortet gewusst hätte. Dies soll an dieser Stelle jedoch nur ein kleiner Kritikpunkt sein, denn alles in allem hat mich das Buch sehr begeistert und berührt.

Fazit

Dieses Buch ist für mich definitiv ein Lesehighlight. Ich habe gelacht, gelitten, hatte Gänsehaut, war bedrückt, erschüttert und bewegt. Wer in einen Liebesroman eintauchen möchte, in der die Charakterentwicklung und Gefühlswelt ganz oben steht und in der einem die Frage „Wie wird man stärker?“ authentisch beantwortet wird, der ist hier definitiv richtig und sollte diesem völlig anderen Werk von Carina Bartsch eine Chance geben! Von mir gibt es trotz kleiner Kritikpunkte die volle Punktzahl.