Rezension

Wohin, Yiza?

Das Mädchen mit dem Fingerhut - Michael Köhlmeier

Das Mädchen mit dem Fingerhut
von Michael Köhlmeier

Bewertet mit 4 Sternen

Irgendwo in einer großen Stadt, in Westeuropa. Ein kleines Mädchen kommt auf den Markt, hat Hunger. Sie versteht kein Wort der Sprache, die man hier spricht. Doch wenn jemand „Polizei“ sagt, beginnt sie zu schreien. Woher sie kommt? Warum sie hier ist? Wie sie heißt? Sie weiß es nicht. Yiza, sagt sie, also heißt sie von nun an Yiza. Als Yiza zwei Jungen trifft, die genauso alleine sind wie sie, tut sie sich mit ihnen zusammen. Sie kommen ins Heim und fliehen; sie brechen ein in ein leeres Haus, aber sie werden entdeckt. Michael Köhlmeier erzählt von einem Leben am Rande und von der kindlichen Kraft des Überlebens – ein Roman, dessen Faszination man sich nicht entziehen kann. (Hanser-Verlagsseite)

140 Seiten, mehr braucht Köhlmeier nicht, um eine anrührende, schwermütige Geschichte leicht zu erzählen.

Ein kleines Mädchen wird jeden Morgen von seinem Onkel zum Markt gebracht, wo es beim Lebensmittelhändler Bogdan unterschlüpft, versorgt wird und wartet. Wenn sie abgeholt wird, pfeift der Onkel vor dem Laden, und sie verschwindet durch die Hintertür. Keiner der Händler bekommt den Onkel zu Gesicht. Bis eines Tages der Onkel nicht mehr kommt und sie sich auf eine Irrwanderung durch die fremde Stadt macht.

Woher kommt dieses Mädchen? Warum bringt der Onkel sie jeden Tag weg und holt sie abends wieder ab? Warum kommt er auf einmal nicht mehr?  – Diese Frage habe ich bereits nach der Leseprobe gestellt, aber meine Hoffnung, nach der Lektüre die Antworten zu kennen, erfüllte sich nicht. Der Leser ist und wird nicht schlauer als das Mädchen selbst, das Yiza genannt wird. Wie sie wirklich heißt, erfährt man auch nicht.

Die Stärke des Buches: Der Erzähler weicht dem Mädchen nicht von der Seite; was geschieht, sieht er mit ihren Augen. Aber er kriecht nicht in sie hinein. Ihre Gefühle, die Angst und das Alleinsein nachzuempfinden überlässt er dem Leser. Das ist „show, don’t tell“ in Perfektion.

Doch, auch das verdankt man Köhlmeiers Kunst, der Leser braucht trotz der bemitleidenswerten Protagonistin und ihrer trostlosen Erlebnisse kein Taschentuch; der Autor provoziert keine mitleidige Anteilnahme.

Literarisch wirkt Köhlmeiers Erzählung wie eine lange Kurzgeschichte: Einsträngige, chronologische Handlung „wie ein Stück herausgerissenes Leben“ (Schnurre) ohne Einführung und mit offenem Ende.

Ihre Sogkraft ist die Handlung um das allein gelassene Kind. Mehr braucht sie nicht.

 

Lediglich eine meiner Fragen ist beantwortet, die nach dem Maler und dem Titel des Coverbildes. Es handelt sich um den hierzulande unbekannten Rafael Martinz Diaz (1915-1991) , das Gemälde, aus dem das Mädchen auf dem Cover ausgeschnitten wurde, hängt im Museo des bellas Artes in Sevilla unter dem Titel „Ninas pobres“: http://www.juntadeandalucia.es/cultura/blog/wp-content/uploads/2014/07/FOTO-3.-Niñas-pobres.jpg