Rezension

Wortgewaltig

Max - Markus Orths

Max
von Markus Orths

Bewertet mit 5 Sternen

„Alles starb hier. Ein loser Vogel floh vor dem Donnern. Keine Krähe, kein Rabe, kein Kakadu: eine Amsel. Max sah ihr nach in die Nacht. Fliegen: fliehen. Stattdessen Granaten, Kanonen, Ducken in den Grabendreck. Jedes Bild ertrank im Jahre 2015. Was ist deine Lieblingsbeschäftigung, Max? – Sehen! Sehen! Sehen! Seine lebenslange Antwort. Doch gab’s nichts mehr zu sehen jetzt. Das Licht lag im Schlamm.“

Max. Sechs Frauen, sechs Lieben, ein Jahrhundert. So bewirbt der Hanser Verlag das neue Werk von Markus Orths. Und deutet damit schon an, welche Mammutaufgabe Orths sich da vorgenommen hat. Nicht irgendein Max ist es, über den er schreibt, nein, es ist Max Ernst, der unangepasste Ausnahmekünstler, der ewig Suchende, Streitbare. Und seine Frauen: Lou Strauß-Ernst, Gala Eluard, Marie-Berthe Aurenche, Leonora Carrington, Peggy Guggenheim, Dorothea Tanning. Sechs Frauen, und doch nur eine Auswahl aus den unzähligen Frauen des Max Ernst.

2.April 1891 – 1.April 1976. Fast ein Jahrhundert. Und welch eine Zeit: geboren im Kaiserreich, zwei Kriege erlebt, aus der wilhelminischen Enge in den Schützengraben, von da nach Paris, das Nazireich, Flucht, entarteter Künstler, gefeiert und wieder fallengelassen in Amerika, Rückkehr nach Frankreich. Ein reiches Leben, ein schweres Leben, ein langes Leben.

Das alles verarbeitet Markus Orths in seinem Buch, größtenteils gesehen durch die Augen der Frauen. Faszinierend , wie es dem Autor gelingt, Max Ernst quasi als Spiegelbild wieder aufleben zu lassen, als jugendlicher Liebhaber bei Lou, als besitzergreifender Teil einer Menage á trois bei Gala und Paul Eluard, als Objekt einer Obsession bei Marie-Berthe, als Teil einer Verschmelzung  bei Leonora, als unwilliges Besitzstück der Peggy Guggenheim und schlußendlich als teilender Partner bei Dorothea.

Jede Frau zeigt uns eine andere Facette an Max Ernst und erst alle Ansichten zusammen ergeben das Gesamtbild. Dabei lässt Orths den Frauen viel Raum, tritt der Künstler teilweise sogar in den Hintergrund, erfahren wir viel über Leben und Leiden seiner Partnerinnen. Auffallend oft sind sie labil, schillernde Falter an der Grenze zum Wahnsinn. Alle sind sie kunstbegeistert, kunstbesessen, Malerinnen, Kritikerinnen, Kunstsammelnde. Auf der Suche nach einer Identität in einer umbrechenden, auseinanderbrechenden Welt.

Künstlerisch ist die Zeit, in der Max Ernst in Paris lebt, die Zeit zwischen den Kriegen, die Zeit, in der ein Großteil des Romans spielt, eine Hochphase: Breton, Eluard, Dali, Picasso. Alle auf der Suche nach neuem Ausdruck, nach Wahrheit im Ausdruck. Alle kriegsgeprägt, bereit alte Werte zu verwerfen. Dadaismus, Surrealismus, Aufbruch, Neufindung – laut, schnell, exzessiv. Alles wird bis zur Neige probiert, Alkohol, Sex, durchzechte Nächte. Nur langsam dringt das Zeitgeschehen in die Künstlergemeinschaft, spät erst erkennen sie die Zeichen der heranbrechenden Nacht. Erst in letzter Sekunde gelingt Max Ernst die Flucht nach Amerika. Er verliert dabei viel: Freunde, seine vielleicht größte Liebe, Teile seines Werks.

Markus Orths schafft es tatsächlich, den Geist dieser Zeit wieder zum Leben zu erwecken; seine Personen sind aus Fleisch und Blut, nicht nur Schattenbilder aus gut recherchierten Quellen. Wortgewaltig, atemlos, bilderreich gibt er den Menschen eine Stimme, lässt er Farben leuchten, erfasst er Zeitströmungen. Selten habe ich nach dem Lesen eines Buches das Gefühl aufzutauchen, Luft schnappen zu müssen. Hier brauchte ich tatsächlich Zeit, habe ich lange noch Bilder vor mir gesehen, Sprachschnipsel im Kopf gehört, Worte hin und her bewegt.

Und darum möchte ich Markus Orths danken, dass er gegen das Vergessen angeschrieben, Max Ernst und seiner Zeit eine so großartige Stimme gegeben und damit den Menschen hinter den Kunstwerken gezeigt hat.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 02. Dezember 2017 um 13:31

Ah, lese jetzt erst deine Rezension, Gisèle. Große Klasse. Angemessen. Gefällt mir sehr.

Giselle74 kommentierte am 02. Dezember 2017 um 17:39

Danke. Großartiges Buch!

Steve Kaminski kommentierte am 04. Dezember 2017 um 14:33

Stimmt, eine tolle Rezi! Offenbar ist dieses Buch etwas Besonderes - wie eure Rezensionen intensiv vermitteln.