Rezension

Wozu Menschen fähig sind

Das Floß der Medusa
von Franzobel

Bewertet mit 4 Sternen

1816: Die unter französischer Flagge segelnde Fregatte Medusa beginnt ihre Reise von Rochefort nach Saint-Louis im Senegal. Niemand von der Besatzung und von den Zivilisten ahnt, dass ihnen eine Katastrophe bevor steht. Der ohnehin unfähige Kapitän Chaumarey lässt sich von seinem betrügerischen Freund Richeford beraten, anstatt auf weisere Offiziere zu hören, weshalb die Medusa kurz vor der afrikanischen Küste strandet. Während sich die feinen Herrschaften mit den wenigen Rettungsbooten davon machen, bleibt für die übrig gebliebenen 147 Menschen nur ein notdürftig gebautes Floss... .
Franzobel hat sich dem tatsächlich ereignetem Schiffsunglück der Medusa angenommen und daraus einen historischen Roman gemacht. Darin zeigt er nicht nur, wozu Menschen fähig sind, wenn es um das eigene Überleben geht, sondern auch den ganz normalen Alltag auf hoher See im 19. Jahrhundert. 
Die ganze Zeit über wird man als Leser von einem allwissenden und stets präsentem Erzähler durch die Handlung geführt. Er kommentiert die verschiedenen Begebenheiten und Figuren, blickt bis in unsere Gegenwart und setzt vergangene und auch zukünftige Ereignisse in Zusammenhang mit dem Unglück auf der Medusa. Mir hat diese Art und Weise, das Geschehen präsentiert zu bekommen, nicht immer gefallen und war mir manchmal zuviel des Guten. An einigen Stellen jedoch zeigt der Erzähler bestimmte Dinge auf, die ich sonst übersehen hätte. 
Von den Figuren her ist die Geschichte gerade am Anfang etwas unübersichtlich, doch nach und nach gewöhnt man sich an die Namen und kann diese auch zuordnen. Besonders spannend fand ich, gemeinsam mit dem neuen Schiffsjungen Victor, der ebenfalls das erste Mal eine Fregatte betritt, das Schiffsleben mitzubekommen. Für ihn beginnt gewissermaßen schon vor dem Unglück ein Überlebenskampf, da er sich gegen den brutalen Koch wehren muss und erst bei Savigny, einem etwas übereifrigem Arzt, Ruhe findet.
Erwähnen möchte ich hier auch den Kapitän Chaumarey, der eigentlich nur aufgrund von seinen Bittbriefen und durch seinen Stand der Medusa vorstehen darf. Qualifikationen als auch Erfahrung auf hoher See kann er nicht vorweisen, was für mich doch schon ziemlich erschreckend war. 
An ihm, aber auch an der generellen Situation auf der Fregatte zeigt Franzobel, dass schon damals, aber leider auch heute noch immer viele Missstände in der Seefahrt herrschen und man aus dem Schicksal der Medusa nicht viel gelernt hat. So gibt es knapp ein Jahrhundert später auf der Titanic noch immer zu wenige Rettungsboote, so dass nicht alle Menschen gerettet werden können.
Franzobel schreibt gut verständlich und schafft es, dass man sich die einzelnen Situationen und auch die Menschen gut vorstellen kann. Gerade, wenn die Zustände auf dem Floß beschrieben werden, wird es ziemlich eklig und manchmal muss man sich beim lesen wirklich vor Entsetzen die Hand vor den Mund halten. Dennoch bin ich der Meinung, dass es ihm außergewöhnlich gut gelingt, den Überlebensdrang der Figuren darzustellen. Jede Abmilderung und Beschönigung wäre hier fehl am Platz gewesen. 
Insgesamt ist ,,Das Floss der Medusa" gleichzeitig ein sehr beeindruckendes, aber auch schockierendes Buch, das zeigt, wie schnell Menschen in Extremsituationen bereit sind, alles zu tun, um ihr Leben zu retten. Diesen besonderen historischen Roman empfehle ich gerne weiter.