Rezension

Würdiger Nachfolger des grandiosen ersten Bandes!

Das Juwel - Die Weiße Rose
von Amy Ewing

Bewertet mit 4.5 Sternen

(4,5 von 5 Sternen)

Den ersten Band der Reihe fand ich schon unglaublich gut - originell, einfallsreich, spannend und fantastisch geschrieben, mit überzeugenden Charakteren. In meinen Augen schaffte er es mühelos, sich positiv aus der Flut der Fantasy-Dystopien herauszuheben, deswegen war ich natürlich sehr gespannt, ob der zweite Band damit würde mithalten können.

Und meiner Meinung nach ist der zweite Band eine mehr als würdige Fortsetzung des ersten!

Als interessanter neuer Charakter wird die mürrische alte Sil eingeführt, die früher mal Surrogatin war und durch grausame, traumatische Erlebnisse ganz unverhofft herausgefunden hat, was die Macht der Surrogaten wirklich bedeutet - und wie sehr der Adel diese Macht korrumpiert und für die eigenen Ziele pervertiert hat. Jetzt teilt sie dieses Wissen mit Violet, und ich fand das unheimlich faszinierend, denn es geht in eine ganz andere Richtung, als ich erwartet hatte, gibt der Geschichte aber eine völlig neue Ebene. Vieles macht mit diesem Wissen auch viel mehr Sinn!

Es eröffnet auch ganz neue Möglichkeiten des Widerstands gegen das unmenschliche System, und natürlich soll Violet dabei eine wichtige Rolle spielen.

Violet ist seit dem Anfang des ersten Bandes deutlich spürbar an ihren Erlebnissen gewachsen. Sie ist viel forscher, entschlossener und mutiger, und ich hatte wirklich das Gefühl, dass sie ihrer neuen Rolle gewachsen ist. Manchmal neigt sie dazu, übers Ziel hinaus zu schießen, wenn sie die Menschen, die sie liebt, beschützen will - dann wird sie etwas übergriffig, setzt sich über ihre Wünsche hinweg und nimmt ihnen die Möglichkeit, aus freiem Willen auch mal eine gefährliche Entscheidung zu treffen. Ash zum Beispiel würde gerne eine aktivere Rolle im Widerstand einnehmen, aber sie hat Angst davor, dass ihm dabei etwas zustoßen würde. Ich fand es aber gut, dass Violet kein perfekter Mensch ist, sondern auch Schwächen hat! Ich habe immer mit ihr mitfühlen können - auch wenn sie etwas tat, was ich nicht gut fand.

Überhaupt fand ich die Charaktere wieder sehr gut geschrieben. Sie entwickeln sich weiter, zeigen neue Facetten, haben Stärken und Schwächen... Manche haben mich überrascht, aber ich fand sie immer komplex, authentisch und glaubhaft. Besonders Garnet kann in diesem Band zeigen, dass weit mehr in ihm steckt, als man bisher vermutet hätte! Mein Liebling ist allerdings nach wie vor Lucien, über dessen Vergangenheit man in diesem Band so Einiges erfährt, was ihn viel verletzlicher und menschlicher macht. Seine Zuneigung zu Violet fand ich sehr rührend.

Die Liebesgeschichte zwischen Ash und Violet spielt in diesem Band eine eher kleine Rolle - was im Grunde nur realistisch ist, denn sie haben im Moment wirklich andere Sorgen! Aber sie ist trotzdem süß und romantisch, dabei aber erfreulicherweise nicht kitschig.

So nach und nach sieht man als Leser, dass eigentlich jeder, der nicht zur herrschenden Oberschicht gehört, in diesem System gnadenlos unterdrückt wird, leiden muss und ein unfreies Leben führt. Wie die Surrogaten ausgebeutet werden, weiß man ja schon seit dem ersten Band. Durch Ash erfährt man jetzt, wie die Gefährten ausgebildet werden, und das ist im Prinzip nichts Anderes als sexuelle Gewalt. Und Lucien hat sich ganz sicher nicht ausgesucht, als Kind kastriert zu werden, und das ohne Betäubung. Auch die Regimenter haben sich ihr Leben nicht unbedingt selber gewählt. Der Adel stiehlt den Menschen im Prinzip die Kinder, um sie dann für die eigenen Zwecke zu benutzen, in welcher Form auch immer.

Das Buch baute für mich schnell Spannung auf und konnte diese dann mit zahlreichen unerwarteten Wendungen, brenzligen Situationen und neuen Herausforderungen bis zum Schluss halten.

Auch der Schreibstil konnte mich wieder überzeugen, mit wunderbaren Bildern und vor allem dichter Atmosphäre. Drama, Gefahr, Trauer, Hass, aber auch Hoffnung, Liebe, Mitgefühl - Amy Ewing bringt die verschiedensten Gefühle und Situationen überzeugend und lebendig zu Papier.

Fazit:
Oft sind zweite Bände die schwächsten Bände einer Trilogie. Mal hat man den Eindruck, dass sie reines Füllmaterial sind, damit die Geschichte auch irgendwie für drei Bände reicht. Mal stellt man im zweiten Band fest, dass der Weltentwurf doch nicht so schlüssig und gut durchdacht ist, wie es im ersten Band noch schien. Mal muss man einsehen, dass die Charaktere sich keinen Schlag weiterentwickelt haben und auch keine Anstalten dazu machen.

Bei "Die weiße Rose" ist das in meinen Augen aber nicht der Fall, sondern er kann mit dem ersten Band problemlos mithalten! Als Leser erfährt man jetzt, was es wirklich auf sich hat mit der Macht der Surrogaten und wie das System des Juwels überhaupt entstanden ist, und das war für mich unerwartet und gerade deswegen spannend. Die Charaktere entwickeln sich auf glaubhafte Art weiter, der Schreibstil hat mich wieder überzeugt... Und das Buch bietet eine vielversprechende Grundlage für einen hoffentlich bombastischen dritten Band!