Rezension

Wunderschön und melancholisch

Das Mädchen mit den gläsernen Füßen - Ali Shaw

Das Mädchen mit den gläsernen Füßen
von Ali Shaw

Bewertet mit 4.5 Sternen

«Wieder blitzte eine Qualle auf, aber diesmal erlosch das Licht nicht. Ein gelber Schein, der auf dem Wasser tanzte. Seine Leuchtkraft schien auch ihre Gefährten anzustacheln. Immer mehr Körper glühten auf und aus den Funken wurde ein gleichmäßiges Strahlen: gelb, rosa, dunkelrot und türkis. Der Effekt breitete sich langsam durch die ganze Bucht hindurch aus, bis das Wasser in allen Regenbogenfarben leuchtete, die sich an den Wänden des Hauses spiegelten. [...] "Stell dir vor, wie es wäre, an so einem Ort zu leben", sagte sie, "wo man so etwas jeden Abend sehen kann." Er tat es. An einem Ort mitten im Nirgendwo, nur sie und er, und bei diesem Gedanken kam sein Bewusstsein zur Ruhe, so als könnte die Vorstellung allein alle Sorgen, die sich normalerweise darin tummelten, wegspülen.»
[aus "Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" von Ali Shaw; S.266-267]

Erster Satz:
In jenem Winter berichteten die Zeitungen über einen Eisberg von der Größe einer Galeone, der voll knirschender Erhabenheit an den Klippen von St. Hauda’s Land vorbeitrieb, über ein Wildschwein, das verirrte Wanderer aus dem Felsenlabyrinth unterhalb des Lomdendol Tor herausführte, über einen verblüfften Ornithologen, der in einem Schwarm von zweihundert Krähen fünf Albinos gezählt hatte.

Inhalt:
Auf der verschneiten, verwunschen wirkenden Insel St. Hauda's Land ist nichts so, wie es scheint: Im Moor liegen zu Glas erstarrte Menschen, ein Einsiedler beherbergt eine Herde geflügelter Miniaturrinder und irgendwo in den Wäldern lebt ein Tier, dass mit einem einzigen Blick alles in Weiß verwandeln kann. Nach ihrem Sommerurlaub auf St. Hauda's Land breitet sich eine merkwürdige Krankheit auf Ida Maclairds Körper aus: Von den Füßen aufwärts verwandelt sie sich langsam in Glas. In der Hoffnung auf Heilung kehrt sie auf die Insel zurück und findet dort, verborgen hinter Erinnerungen und Vergangenheit ihre große Liebe. Durch ihren Lebensmut und ihre direkte Art, schafft sie es Midas Crooks harte Schale aus Selbstschutz zu brechen, mit dem sie nun gemeinsam versucht, das Glas aufzuhalten.

Schreibstil:
Selten gibt es Bücher, die mich allein schon des Schreibstiles wegen absolut fesseln, doch "Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" hat dies mit dem ersten Satz geschafft. Die Geschichte ist wie ein Märchen für Erwachsene geschrieben, in dieser verträumten, beschreibenden Art und Weise, die den Leser dazu bewegt, in der Welt abzutauchen, die sich ihm öffnet. Geradezu poetisch und sehr atmosphärisch gelingt es Ali Shaw sein St. Hauda's Land noch glaubwürdiger und dreidimensionaler wirken zu lassen. Obwohl er viel und detailliert beschreibt schafft er eine Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann und obgleich die Geschichte eher sanfte Töne spielt, wird sie nicht unbedingt langweilig. Es ist einfach ein Buch, das man langsam liest, dessen Worte man kauen und verdauen muss, um sie greifen zu können.

Meinung:
Manche Bücher sind laut wie Rocksongs und andere leise wie sanfte Balladen. Wäre "Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" ein Lied, wäre es etwas unglaubliches Zartes mit viel Gefühl, womöglich etwas Akkustisches, denn dieses Buch setzt eher auf ruhige Töne, flüstert dem Leser seine Geschichte beinahe schon zu. Das ganze Buch ist eine einzigartige Kombination aus dem Gefühl klirrender Kälte verbunden mit einem ganzen Haufen von Emotionen, vielen Beschreibungen und erlebter Rede und das alles gefangen in einer faszinierenden Welt, die vollgepackt ist mit Melancholie, Träumen und Erinnerungen.

Es gibt wenige Bücher, bei denen wirklich alles stimmt, angefangen bei der äußerlichen Gestaltung bis hin zum Schreibstil, den Charaktern und der Geschichte. "Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" hat jedoch eine ganz besondere Wirkung auf den Leser, denn es wirkt stimmig, echt und verträumt.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, das Buch wäre ein reines Fantasyabenteuer, denn es wirkt sehr phantastisch und andersartig. In Wirklichkeit ist der Fantasyanteil jedoch eher gering und die wenigen phantastischen Elemente sind so gut in die Geschichte eingesponnen, dass es teilweise beinahe schon realistisch wirkt. Ein Grund dafür ist vor allen Dingen die Tatsache, dass Ali Shaw ein Talent dafür hat, Dinge so zu beschreiben, dass man sie sich genau vorstellen kann. So haben mich allen voran die Beschreibungen von Idas gläsernen Füßen sehr fasziniert und überzeugt.

Prägend für die Geschichte sind allerdings die Charakter, denn durch diese gewinnt das Buch überhaupt erst an Leben. Grob gesagt kann man eigentlich jede Figur des Buches als emotional verkorkst und andersartig darstellen, denn ein jeder hat einen Hintergrund, eine Geschichte, durch welche ihr Handeln bestimmt wird. So gewinnen die Charakter an Tiefe, weisen viele glaubwürdige Eigenschaften auf und haben Wiedererkennungswert. Im Vordergrund stehen Midas Crook und Ida Maclaird, die sich direkt zu Beginn des Buches kennenlernen. Midas ist ein verschrobener, einsamer junger Mann, der geprägt durch das verstörte Verhältnis zu seinem Vater, der sich selbst umbrachte, ein sehr zurückgezogener und schüchterner Charakter ist, der eher schwer zugänglich für den Leser ist. Er muss erst mit der Zeit lernen, was es heißt, jemanden an sich heran zu lassen oder zu vertrauen, denn für ihn zählt eigentlich nur die Photographie, durch welche er Erinnerungen wieder aufleben lassen kann. Das die Welt um ihn herum weitergeht, merkt er erst, als er Ida näher kommt. Diese ist eigentlich ein sehr lebenslustiger Mensch, der viel erlebt und von der Welt gesehen hat. Wegen der merkwürdigen Veränderung ihres Körpers kehrt sie auf St. Hauda's Land zurück, um Heilung zu finden. Ihre "Krankheit" und ihre Reaktion darauf sind sehr emotional und glaubwürdig geschildert, sodass man mit ihr leidet, mit ihr hofft und sucht. Allerdings lernt man sie nicht so gut kennen, wie Midas, da es nicht so viele Erinnerungen von ihr gab, was ich sehr schade fand.

Besonders charakterisierend für das Buch sind die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Charakter, denn irgendwie scheint es zwischen jeder Figur eine Verbindung zu geben, die eine Vergangenheit hat. Diese spielt ebenfalls eine große Rolle, denn immer wieder gibt es Sicht-und Zeitwechsel, die hauptsächlich von Midas Kindheit mit seinen Eltern erzählen, allerdings wird ebenfalls Carls Perspektive und Vergangenheit beschrieben, sowie die von Henry Fuwa, der meiner Meinung nach ebenfalls ein sehr interessanter Charakter war. Er züchtet die s.g. Ochsenmotten (kleine, geflügelte Rinder) und war in Midas' Mutter verliebt. Durch die vielen Sichtwechsel ist es jedoch manchmal ein wenig schwer, der Gegenwart zu folgen und so ziehen sich manche Passagen ein wenig, was jedoch der Geschichte nicht unbedingt schadet.

Ich denke, dass "Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" nicht unbedingt ein Buch ist, das jedem gefallen wird, da es sich einfach von anderen Jugendbüchern unterscheidet und nicht auf der Mainstreamschiene fährt, wieviele andere. Auch die Tatsache, dass hier eher Werte wie Freundschaft, Liebe, Mut und das Leben selbst im Vordergrund stehen und so keine spannende Geschichte zu erwarten ist, wird vermutlich nicht vielen gefallen. Wenn man sich jedoch auf das Buch einlässt, wird die fehlende Spannung durch ein schweres Gefühl im Bauch ersetzt, dass den Leser mitreißt und tief berührt. Hier stehen einfach Gefühle und die Atmosphäre im Fokus, was die Geschichte zu einer ganz besonderen macht. Mit der originellen Idee, den vielen liebevollen Details und der faszinierenden Insel, die wie verzaubert wirkt, schafft es Ali Shaw jedoch trotzdem den Leser in seinen Bann zu ziehen und wird denjenigen, die sich mit dem Buch auseinandersetzen und mitdenken, sicherlich länger im Gedächtnis bleiben.

Fazit:
Wen dieses Buch nicht berührt, dessen Herz fängt vermutlich schon an, sich langsam in Glas zu verwandeln! Zwischen den leisen Tönen und der atmosphärischen Geschichte ist Mitdenken und Träumen angesagt und so kann man die Geschichte beinahe auf der Haut spüren, wie fallenden Schnee. Mit viel Gefühl und Melancholie, emotional verkrüppelten Charakteren und einem gekonnten Schreibstil wird einem das Leben selbst mit all seinen Werten, Hochs und Tiefs vermittelt, wobei ein Hauch Phantastik sein Übriges tut. 4,5 Sterne