Rezension

Zu Beginn rasant, zum Ende hin intensiv

Die Chroniken der Verbliebenen - Der Kuss der Lüge - Mary E. Pearson

Die Chroniken der Verbliebenen - Der Kuss der Lüge
von Mary E. Pearson

Bewertet mit 4 Sternen

Die Skepsis bei einem gehypten Auftaktband einer Reihe ist bei mir immer sehr groß. Meistens bin ich eher enttäuscht und dann doch in der Reihe gefangen, weil ich ja unbedingt wissen will, wie es letztlich ausgeht. „Die Chronik der Verbliebenen“ ist nun die neuste Reihe, die viel Aufmerksamkeit in der Buchszene erhalten hat. Als ich dann bei einer Buchverlosung zu den Glücklichen zählte, konnte ich mich dann selbst überzeugen, ob der Hype gerechtfertigt ist oder nicht. Hier ist meine Analyse:

Der erste Band, der eigentlich eine neue Welt, neue Figuren und eine Handlung installieren muss, beginnt ungewöhnlich rasant. Man wird mitten in die Handlung hineingeschmissen und ehe man sich versieht ist auf den ersten 50 Seiten so viel passiert, das man glaubt schon die Hälfte verschlungen zu haben. Grundsätzlich weiß ich Lesetempo sehr zu schätzen, da ich endlos langen Beschreibungen eher abgeneigt bin, aber wenn ich mich nun mal erst in eine neue literarische Welt einfinden muss, die mit meiner realen Welt kaum etwas gemein hat, dann brauche ich eben diese Beschreibungen, um mich einzufinden und mitdenken zu können.

Dass das zu Beginn nicht so recht gelingen wollte, konnte man dann merken, dass ich zuerst gar nicht begriff, dass aus „Der Attentäter“ und „Der Prinz“ gegenüber den Figurennamen „Rafe“ und „Kaden“ ein Rätsel beinhaltet war, wer nun wer ist. Vielleicht ist es auch ein Beweis, dass ich nicht zu den aufmerksamsten Lesern gehöre, aber für mich ist es eher eine Folge von dem überhasteten Beginn. Mit Rafe und Kaden bin ich nun bei einem weiteren, aber auch meinem letzten Kritikpunkt angekommen: die Liebesdreiecke…. Hier wird dieses zu Beginn gleich sehr plump in den Raum gestellt. Zum Glück fühlt Lia sich ja schon früh zu einem von beiden mehr hingezogen, so dass ich meine Wahl, mit wem ich mitfiebere, getroffen habe, aber warum müssen es überhaupt Liebesdreiecke sein? Ich greife auch ohne zu und kann nur hoffen, dass sich dieser Handlungsaspekt über alle Bände bis zum bitteren Ende erstreckt.

Nun kommen wir zum Positiven: nach dem rasanten Beginn, findet die Geschichte irgendwann ihren Rhythmus, der mal ruhigere und sehr emotionale Momente bietet und mal sehr spannende und kurzweilige Momente. Mit dieser Mischung stimmt das Lesetempo für mich perfekt, so dass ich diesen Kritikpunkt zu Beginn für mich als gegessen notiert habe. Neben diesem Personenrätsel, in dem sicher der ein oder andere Leser auf die Schnauze gefallen ist (Hut ab dafür, nämlich auch ich!), überzeugen mich eigentlich alle Figuren. Neben treuen Nebenfiguren wie Pauline oder Gwyneth, bieten die beiden Kontrahenten Rafe und Kaden sehr unterschiedliche Seiten, die viel Konfliktpotenzial haben, aber am meisten überzeugt mich zu meiner positiven Überraschung Lia.

Wie oft verzweifle ich gerade bei Reihen an den weiblichen Protagonistinnen. Mit ihnen müsste ich mich eigentlich identifizieren, aber unweigerlich entsteht Frust. Bei Lia ist es tendenziell eher andersrum. Mit ihrer waghalsigen Flucht beweist sie zwar schon zu Beginn Mut, aber in ihrer neuen Heimat steht recht lange ihre pubertäre Sehnsucht nach Liebe im Fokus. Doch auch dieses Bild wandelt sich und hervor tritt, von schlimmen Schicksalsschlägen getroffen, eine selbstbewusste, ehrenvolle, mutige und empathische Heldin hervor. Bin ich sonst irgendwann Fan vom männlichen Helden, ist es hier Lia, wegen der ich leide und mitfühle und wegen der ich unbedingt weiterlesen muss.

Der Handlungsverlauf ist fast perfekt gestaltet. Es passiert unheimlich viel, viel Intensives im guten und im schlechten Sinne und die großen Handlungsbögen werden alle angeschnitten, aber doch noch so weit im Dunklen gelassen, dass die restlichen Bänden zur Auflösung unbedingt gelesen werden müssen und man so lange noch fleißig rätseln kann. Diese Handlungsbögen bieten auch unheimlich Potenzial, weil sie mythisch klingen und noch eine ganz eigene Handlung kreieren können.

Fazit: Der Hype um die neue Reihe „Die Chronik der Verbliebenen“ ist mit Einschränkungen für mich nachvollziehbar. Der Anfang ist der schwächste Teil, weil er zu schnell erzählt ist, so dass man sich noch nicht recht in die Geschichte einfinden kann. Aber dann entwickelt sich eine intensive Geschichte, die von Überraschungen, Spannung, tollen Figuren und einer alles überstrahlenden Protagonistin geprägt ist. Von all dem will ich mehr, so dass ich bei den weiteren Bänden zugreifen werden, in der Hoffnung, dass mich das Liebesdreieck nicht mehr allzu lange begleitet.