Rezension

Zwei berühmte Geschwisterpaare und ein Mordfall

Grimms Morde - Tanja Kinkel

Grimms Morde
von Tanja Kinkel

Bewertet mit 5 Sternen

Die beiden Schwestern Jenny und Annette von Droste-Hülshoff aus Münster reisen ins hessische Kassel, um den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm bei der Aufklärung eines Mordes beizustehen, dessen sie verdächtigt werden.
Die Dichterin, die zum Zeitpunkt der Handlung, um 1820, erst Mitte Zwanzig war und deren schriftstellerische Ambitionen noch kaum Anerkennung fanden, fühlt sich verantworlich dafür, dass die Brüder, vor allem der Ältere, Jacob, unter Mordverdacht gerieten, weil bei der Leiche, einer ehemaligen Mätresse des Kurfürsten, ein Zitat gefunden wurde, das aus einem der Märchen stammt, die sie und ihre Schwester der Märchensammlung der Brüder haben zukommen lassen und, heimlicherweise, sogar selbst verfasst haben.
Die Ermittlungen gestalten sich mühselig, allerlei Hindernisse werden den Geschwisterpaaren in den Weg gestellt - und bald wird der gescheiten Annette klar, dass dem bei den Kassler Autoritäten wenig beliebten Jacob die Rolle des Sündenbocks zugeschoben werden soll. Mit der ihr eigenen Klugheit, Rationalität und einer gehörigen Portion unkonventioneller Unbefangenheit macht sie sich daran, auf eigene Faust und gelegentlich auch inspiriert durch Jacob, der seinerseits auch ermittelt, den wahren Mörder zu finden.
Aber ob das gutgehen mag in einer Epoche, in der den Frauen Eigenständigkeit und Selbstbestimmung weitgehend versagt wurde, in der sie sich unterordnen mussten und den Männern alles andere als ebenbürdig angesehen wurden?

Im Rahmen der historischen Fakten hat sich Tanja Kinkel eine Geschichte ausgedacht, die sich durchaus so hätte zutragen können, denn die vier Protagonisten ihres historischen Romans, in dem ein fiktiver Kriminalfall im Mittelpunkt steht, kannten einander, wenn auch nicht auf die hier geschilderte Weise.
Wie hätte eine Zusammenarbeit der beiden Geschwisterpaare aussehen können und wäre eine solche überhaupt möglich gewesen angesichts der damals herrschenden strengen Rollenverteilung der Geschlechter?

Sich eng an die jeweiligen Biographien und vorhandenen Zeugnisse, Briefe, etc. haltend ersinnt die Autorin ein mögliches Szenario, in dem sie die Grimms und die Drostes miteinander agieren lässt, getreu ihrer Persönlichkeiten.
Annette erscheint uns als selbstbewusste und überraschend unkonventionelle junge Frau, die durch ihre Intelligenz, ihren Scharfsinn und ihre Schlagfertigkeit keinen leichten Stand in der Zeit hatte, in der sie lebte, während ihre Schwester und lebenslange engste Vertraute, Jenny, durchaus dem damaligen Frauenbild entsprach, ohne dass sie dabei allerdings ihre Persönlichkeit opferte.

Doch lernen wir zu Beginn der Romanhandlung eine Annette kennen, die aufgrund einer einschneidenden, sie peinigenden "Lektion" auf dem Gut ihres wenig sympathischen Onkels seltsam niedergedrückt, beinahe leblos erscheint, beladen von Schuldgefühlen.
In dem Maße, in dem dem Leser jene geheimnisvolle Bökendorfer Intrige, dem zweiten Hauptthema des Romans, ganz allmählich aufgedeckt wird, gewinnt Annette ihr Selbstbewusstsein im Zuge der Auflösung des Mordfalls, der sie gefangen nimmt, zurück und sie wird sich bewusst, dass es nicht an ihr ist, sich Vorwürfe wegen etwas zu machen, dessen unschuldiges Opfer sie geworden war.

Auch die Gebrüder Grimm müssen mit Schuldgefühlen und eigenen Fehlern kämpfen, auch sie werden am Ende des Romans klüger und um einige Erfahrungen reicher sein als zu Beginn. Und der jüngere von ihnen, Wilhelm, muss schmerzlich erkennen, dass er sein mögliches Lebensglück durch Unachtsamkeit und falsche, seinen Emotionen geschuldete Entscheidungen selbst verspielt hat.

Die Interaktionen zwischen den beiden historischen Geschwisterpaaren, ihre geistreichen, scharfen, hintersinnigen Dialoge, gar ihr verbaler Schlagabtausch, ihr Annähern, Akzeptieren und schließlich Verstehen geben der Geschichte ihren besonderen Reiz, sind unnachahmlich in Szene gesetzt und, bei allem Ernst, auch vergnüglich zu lesen.
Im Zusammenwirken mit den vielen Hintergrundinformationen zur Gesellschaft, der Politik und den damals herrschenden Sitten und Gepflogenheiten geben sie einen detaillierten Einblick in die Zeit nicht lange nach den Napoleonischen Kriegen, spannender als so manche Geschichtsbücher oder -lehrer es vermögen.

Dass dabei der Mord an sich, der die Grimms und Drostes ursprünglich zusammengeführt hat, ins Hintertreffen gerät, ist zu verschmerzen. Viel aufregender als er sind die Begegnungen zwischen den Drostes und den Grimms, ist das, was sich zwischen ihnen abspielt, ist jener geheimnisvolle Vorfall auf Bökendorf, der so etwas wie ein roter Faden in dem Roman ist. Denn lange dauert es, bevor der Leser erfährt, was sich denn tatsächlich so Schreckliches, so Unerhörtes dort abgespielt hat.
Auf jeden Fall ist Tanja Kinkel auch mit "Grimms Morden" wieder ein unterhaltsamer hervorragend recherchierter, unbedingt empfehlenswerter Roman ( mit kriminalistischen Elementen! ) gelungen, der seinesgleichen sucht!