Rezension

Zwei Kinder allein in New York

Den Mond aus den Angeln heben - Gregory Hughes

Den Mond aus den Angeln heben
von Gregory Hughes

Bewertet mit 3 Sternen

Marie Clarie, Roberts jüngere Schwester, sieht in ihren Träumen die Zukunft voraus. Wenn sie spürt, welches Schicksal anderen bevorsteht, wacht diese bemerkenwerte kleine Persönlichkeit mitten in der Nacht auf. In der Familie wird Marie Claire Ratte genannt, weil sie zufällig auf dem Stammesgebiet kanadischer Ureinwohner zur Welt kam. Ratte kann andere Menschen perfekt imitieren und möchte gern einmal Schauspielerin werden. Für ihr Alter wirkt Roberts Schwester reichlich ausgebufft, Rattes Lieblingsgetränk ist Mokka und ihr heftigster Spruch, dass man immer vor Pädophilen auf der Hut sein sollte. Seit der Ermordung von Rattes Freundin wissen die Kinder über Missbrauch Bescheid; bei Ratte kann man sich jedoch noch nicht sicher sein, ob sie Wirklichkeit und Sprüchemachen voneinander trennen kann. Jeden, der Ratte nicht in den Kram passt, bezeichnet sie als Pädophilen. Nach dem Tod des Vaters, den Ratte vorausahnte, machen sich Bruder und Schwester mit Güterzug und Fahrrad auf den Weg von Winnipeg nach New York. Die Kinder wollen auf keinen Fall in ein Heim oder eine Pflegefamilie "gesteckt werden". Ihr Onkel Jerome soll in New York erfolgreicher Drogenhändler sein und man erzählt sich, er sei Fremdenlegionär gewesen. Mit einer raffinierten Mischung aus Gutgläubigkeit und Durchtriebenheit findet die Ratte auf dieser Fahrt Verbündete. Neben der Bronx und Manhatten lernen die Kinder auf ihrer Suche die markantesten Sehenswürdigkeiten New Yorks kennen. Rattes schauspielerische Talente sorgen dafür, dass der Geldbeutel der Kinder stets gefüllt bleibt. Durch die unerwartete Begegnung mit dem Rapper Ice, den Ratte verehrt, tritt ein Erwachsener auf den Plan, der sich um die elternlosen Kinder kümmert.

Mit Bob und Ratte hat Hughes unbestreitbar zwei anrührende Figuren geschaffen. Der dreizehnjährige Robert nimmt in der Geschichte die Rolle des Beobachters und Berichterstatters ein. Er weiß, dass die Ratte viel Freiraum braucht und stellt seine eigenen Wünsche völlig zurück. Ratte übernimmt im Geschwister-Duo die Rolle der rastlosen Antreiberin. Obwohl fast drei Jahre jünger als Bob, ist sie die weise Person, die über Leben und Tod nachdenkt. Bob betätigt sich als Puffer zwischen Rattes verrückten Ideen und der Realität. Besonders anrührend fand ich Roberts Nationalstolz, Kanada sei "etwas Besonderes, wie Amerika ohne die Armee und die Arroganz". (S. 102) Hughes märchenhaftes Roadmovie hat mich mit der Frage gefesselt, welches der beiden Kinder in diesem ungewöhnlichen Team die stärkere Persönlichkeit ist, wer das Projekt Onkelsuche zusammenhält. Obwohl mich die Geschichte von Ratte, Bob und Rapper Ice vorzüglich unterhalten hat, begeistert mich die Botschaft des Buches weniger. Die unreflektiert negative Sicht, dass elternlose Kinder "ins Heim oder in eine Pflegefamilie gesteckt" werden passt in ihrer Naivität nicht zu der Schläue, mit der die Kinder sonst ihren Alltag bewältigen. Dass zwei Kinder in New York tagelang im Freien schlafen und auf ihrer Odyssee immer an herzensgute Gauner geraten, die Kindern nichts Böses tun, finde ich als Botschaft an die zwölfjährige Zielgruppe des Buches ebenso fragwürdig wie die Rechtfertigung von Selbstjustiz und Gewalt, um Kinder aus einem staatlichen Heim zu "befreien".

Kurzfassung: Rührendes, streckenweise groteskes Roadmovie mit schrägen Charakteren und fragwürdiger Botschaft, das die Spannung zum Schluss des Buches nicht halten kann.