Buch

Wir wollen Euch scheitern sehen! - Alexander Görlach

Wir wollen Euch scheitern sehen!

von Alexander Görlach

Danksagung und Widmung

Danken möchte ich allen meinen Kolleginnen und Kollegen des Debatten-Magazins The European für die vergangenen fünf Jahre, in denen wir einen wichtigen Beitrag für die Diskussionskultur in Deutschland geleistet haben. Widmen möchte ich dieses Buch meinen Freunden Christoph Blumenberg, Kolja Hebenstreit und Dario Suter. Vorwort von Christian Wulff,Bundespräsident a.D. Ist die Frage zulässig, wie es sich anfühlt, oberster Repräsentant des Staates in der Welt zu sein, am nächsten Tag über Monate den Spott der ganzen Republik zu erleben und dann auf der Anklagebank zu sitzen wegen eines Besuches beim Oktoberfest in München vier Jahre zuvor? Mit mehr Medienbeobachtung als beim NSU-Prozess, wo zigfacher gemeiner Mord der Aufklärung und Verurteilung harrt? Die Fallhöhe, die ich zu spüren bekommen habe, ist recht spektakulär. Aber ich glaube, auch wenn die Fallhöhe geringer ist, ist das Gefühl, das der Einzelne verspürt, vergleichbar. Wie fühlt sich ein Fußballtrainer, der an einem Tag auf Händen getragen wird, weil die Mannschaft gewinnt und am nächsten Tag übel und verächtlich beschimpft und vom Platz gejagt wird, weil die Mannschaft verliert? Wie fühlt sich die Schülersprecherin, die sich ehrenamtlich in ihrer Freizeit engagiert und freiwillig bemüht, eine schöne Abiturfeier zu organisieren, ihre Vorschläge dazu für die Mitschüler ins Internet stellt und plötzlich mit rücksichtsloser Häme überzogen wird? Es ist einfach, jemanden zu verspotten. Niedermachen ist einfacher als Selbermachen. Das Wort "Schadenfreude" kennen viele Sprachen in dieser Zusammensetzung von Schaden und Freude nicht. Viele werden schon mal Schadenfreude verspürt haben, wenn jemandem, den wir nicht mögen, dem wir etwas neiden, ein Missgeschick passiert ist. Wichtig ist, wie wir genau mit diesem Gefühl umgehen. Uns sollte bewusst sein, dass auch wir Fehler machen und uns überlegen, wie wir dann behandelt werden möchten. In jedem Fall wohl doch mit einem Mindestmaß an Respekt. Der respektvolle Umgang miteinander ist eine der Grundlagen unseres Zusammenlebens und des Zusammenhalts der Gesellschaft. Wir schulden einander Wertschätzung und Respekt, egal ob jung oder alt, ob arm oder reich, ob mit Behinderung oder ohne Behinderung, ob alteingesessen oder zugewandert. Das gilt genauso, wenn die politischen Ansichten überkreuz liegen oder man verschiedenen Religionen angehört. Es gilt für den Umgang mit Personen des öffentlichen Lebens genauso wie für den Umgang mit Freunden, Nachbarn, Vereinsmitgliedern, Lehrern, Kollegen. Es ist eigentlich so einfach. Wie schön wäre es, wir würden alle Menschen schlicht so behandeln, wie wir uns wünschen, behandelt zu werden. Wir alle sind verschieden, und Verschiedenheit ist nicht immer einfach. Manches Mal führt sie zu Auseinandersetzungen und regen Debatten. Unsere Gesellschaft lebt vom Diskurs. Er ist Motor des gesellschaftlichen Fortschritts und so verstanden wird auch Verschiedenheit zu einem Motor dieses Fortschritts. Streiten wir also über den Verkauf von Süßigkeiten in der Schule, über die geplante Umgehungsstraße genauso wie über Asylpolitik oder Auslandseinsätze der Bundeswehr. Streiten wir in der Sache, aber achten wir auf unsere Worte. Hüten wir uns vor Pauschalisierungen. Es ist leicht, von denen da oben zu reden, von den Politikern, den Journalisten oder den Ausländern zu sprechen. Letztlich werden wir damit niemandem gerecht. Hören wir einander zu und hüten wir uns ebenso vor persönlichen Herabsetzungen. Sie sind verletzend und führen dazu, dass sich Menschen zurückziehen. Menschen, die wir zumindest an anderer Stelle noch dringend brauchen könnten. Ich denke an die eben erwähnte Abiturientin. Sie hat, nachdem sie die hämischen Kommentare im Internet gelesen hat, weinend hingeschmissen - sie sah für ihr Seelenheil keinen anderen Ausweg - und den anderen die Organisation überlassen. Wollen wir das? Kann eine Gesellschaft es sich leisten, dass junge Menschen ihr Engagement aufgeben? Und wird dieser Mensch sich noch einmal freiwillig in anderer Sache engagieren oder doch eher die Konsequenz ziehen, lieber nicht in der ersten Reihe zu stehen und selbst zu organisieren, sondern aus der zweiten oder dritten Reihe die Organisatoren zu kritisieren? Demokratie ist zwingend auf Mitwirkung, auf freiwilliges Engagement angewiesen. Wenn das Bild von Jägern und Gejagten um sich greift, werden viele geschützt abseits verbleiben oder sich in Sicherheit bringen. Wollen wir das? Wer bleibt in der aktiven Auseinandersetzung? Wie verhalten sich diejenigen zukünftig? Wie leben deren Familien zukünftig? Das Gemeinwesen würde nicht funktionieren, wenn sich Menschen nicht überall einbringen. Überall müssen wenigstens ein paar bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, als Schülersprecher, als Kirchenratsvorsitzende, als Betriebsrat oder Vereinsvorstand. Diesen Menschen gebühren erst einmal Anerkennung und Respekt, auch wenn sicher nicht jeder mit allem einverstanden sein wird, was diese entscheiden. Das Gleiche gilt in der Politik. Eine Demokratie ohne Volksvertreter gibt es nicht. Auch hier können nicht alle mit allen Entscheidungen aller Volksvertreter einverstanden sein, aber auch hier gilt es, den Politikern erst einmal respektvoll zu begegnen, um dann über Inhalte oder auch über Verfehlungen von Politikern zu diskutieren - in einem angemessenen Ton. Am einfachsten gelingt dies, wenn man sich für einen Moment vorstellt, selbst dieser Amtsträger oder dessen Familienangehöriger zu sein, über den man spricht. Das kann man gar nicht früh genug lernen. In der Jugend entscheidet sich die Grundhaltung, mit der jemand später im Leben Menschen gegenübertritt. Ob Respekt und Empathie oder ob Vorurteile das Menschenbild prägen. Wer in jungen Jahren lernt, wie wichtig es ist, respektiert zu werden und andere zu respektieren, der wird später offener auf Menschen zugehen. Und wer merkt, dass er etwas verändern und bewirken kann, der wird sich später eher für die Gemeinschaft engagieren. Setzen wir der Häme, die in diesem Buch ausgeleuchtet und hinterfragt wird, Respekt entgegen. Alexander Görlach zeigt auf, wohin unsere Gesellschaft steuern kann, wenn Häme sich im elektronischen IT-Zeitalter schneller, anonymer, weltweit ausdehnt. Fragen wir uns einfach: Was können wir selbst dazu beitragen, den Zusammenhalt untereinander zu stärken? Auch den Zusammenhalt im Kleinen. Fragen wir uns, ob wir genug wertschätzen, was andere für uns tun, häufig ohne etwas zu hinterfragen, sondern einfach so. Dieses Wirken für andere ist der Kitt in unserer Gesellschaft. Manchmal misslingt auch etwas. Aber das sollte kein Anlass für Häme und Diffamierung sein. Denn wir wollen doch in einer Welt leben, in der Menschen füreinander da sind und füreinander einstehen, oder?

Einleitung Diese Streitschrift hat mit den Namen Rainer Brüderle, Theodor zu Guttenberg, Uli Hoeneß, Jörg Kachelmann, Annette Schavan, Andreas Türck, Christian Wulff und Klaus Zumwinkel zu tun. Das sind Prominente, die für die Öffentlichkeit in Ungnade gefallen sind. Wir schauen in diesem Buch allerdings nicht auf sie, sondern auf uns. An unserem Umgang mit den Prominenten - mit denen "da oben", wie wir sie gerne nennen - offenbart sich, dass wir als Gesellschaft ein Problem haben. Es wird sich, einmal ausgewachsen, zum Sargnagel unserer Gemeinschaft entwickeln. Wir haben ein grundlegendes Problem mit denen "da oben". Wir verehren sie, verfolgen in Gazetten jeden ihrer Schritte und suchen ihre Nähe. Dennoch stoßen sie uns ab. Wir neiden ihnen nämlich, dass sie "es geschafft" haben und wir nicht. So sind die Prominenten unser Vorbild und unser Menetekel. Das "Oben" wird in dem Zusammenhang, in dem es in den vorliegenden Fällen genutzt wird, als eine Sphäre verstanden, die dem Olymp der Götter gleicht: Für den Normalsterblichen ist dieser Ort nicht zugänglich. Warum diese Überhöhung? Die meisten der Personen "da oben" sind dort, weil wir sie dorthin gebracht haben: durch Wahlen, Aktionärsversammlungen, Casting-Shows, den Kauf von Kino-Tickets und DVDs und durch das Anfeuern dieser oder jener Mannschaft. Wir schaffen mit unserem Verhalten, mit unserer Auswahl, die Grundlage für ihren Erfolg - gesellschaftlich und wirtschaftlich. Haben sie dann Erfolg, sind sie also zu Prominenten geworden, sind sie unserem Zugriff entzogen. Wir verlieren die Kontrolle über sie. Und das ärgert uns. Das Leben dieser Menschen wird aus unserer Mitte, aus der Gesellschaft, hinaus in die Öffentlichkeit gehoben. Die Öffentlichkeit wiederum ist ein virtueller Raum. In ihr werden bestimmte Personen in den Mittelpunkt gestellt und von Menschen bewertet, denen sie nie begegnet sind. In dieser virtuellen Realität gelten andere Regeln als dort, wo Menschen in Bezügen miteinander leben, die noch als persönliche Beziehungen bezeichnet werden können. Die "da oben" sind nicht nur die Prominenten, die wir aus Casting-Shows oder aus den Debattenübertragungen aus dem Bundestag kennen. Aus vielfältigen begrenzten Bezügen brechen Menschen aus und stechen aus dem Umfeld heraus, aus dem sie kommen. Dieser oder jene macht Karriere, diese oder jene heiratet gut, dieser oder jener macht diese oder jene Reise, hat dies oder jenes ausgefallene Hobby. Die Prominenten aus dem Fernsehen haben gewissermaßen kleine Geschwister in den Reihenhaussiedlungen der Republik. Sie gelten nicht in dem Sinne als "die da oben" wie die Prominenten, aber auch sie sind dem Zugriff entzogen, einem Zugriff, der aus dem Gleichsein besteht. Wer gleich ist, den meint man einordnen zu können. Dessen Lebensweg ist vorherbestimmt - wen er heiratet, welchen Beruf er ausüben wird. Der Ort, an dem das geschieht, ist die Mittelschicht. Die größte Schicht in Deutschland, die ihrerseits vielfältig ist und wiederum aus verschiedenen Schichten besteht. Ein Facharbeiter in Karlsruhe, verheiratet, mit zwei Kindern, Einfamilienhaus, gehört ihr ebenso an wie ein Facharzt in Berlin, in eingetragener Partnerschaft mit seinem langjährigen Partner, Loftwohnung. Der eine verdient 60 000 Euro, der andere 80 000. Der eine hat eine Ausbildung, der andere hat studiert. Beide möchten in ihrem Leben weiterkommen, beide orientieren sich nach oben. Beide versuchen, in den Bezügen, in denen sie stehen, weiterzukommen. Dabei gibt ihnen die gewohnte Umgebung Halt und Sicherheit. Ein Ausbruch aus dieser Umgebung bedeutet einen Aufbruch ins Ungewisse. Wer den Sprung wagt, steht unter Beobachtung, unter der Beobachtung seines direkten gesellschaftlichen Umfelds. Beide, der Facharbeiter und der Facharzt, sind noch nicht Gegenstand der Betrachtung der Öffentlichkeit, aber indem sie beide versuchen, mehr aus dem zu machen, was sie bislang haben, sind sie eine Herausforderung für diejenigen, die sie zurücklassen, und eine Konkurrenz für diejenigen, die sich ebenfalls aufmachen, um die Mitte mit ihren vorgegebenen Wegen zu verlassen. Die Prominenten in der Öffentlichkeit und die Aufsteiger in der Gesellschaft zeigen beide gleichermaßen, dass wir in Deutschland in einer Meritokratie leben. Wer sich anstrengt, kann etwas erreichen: wer sich in der Jugendorganisation einer Partei durchbeißt, wer im Fußballtraining immer eine Schippe drauflegt oder wer nicht nur sagt, dass er eine Schauspielschule besucht, sondern hart an sich arbeitet. Niemand wird bestreiten, dass beispielsweise Christian Wulff oder Uli Hoeneß hart gearbeitet haben. Harte Arbeit allein reicht aber nicht - leider. Es gibt sicher logische Konsequenzen, aber keinen Automatismus. Nicht jeder, der in der Regionalliga ein guter Spieler ist, hat das Zeug zum Erstligisten. Nicht jeder gute Schülersprecher ist ein guter Mandatsträger in Land- oder Bundestag. Können und Glück formen gemeinsam das Schicksal der Menschen. Die einen schaffen es nach "ganz oben", die anderen nicht. Können plus Glück ergibt maximalen Erfolg. Das ist alles andere als fair oder nachvollziehbar. Diese Umstände, die, kurz gesagt, unser Leben beschreiben, sind der Anfangspunkt des Neides. Was hat der andere, was ich nicht habe? Aus dem Verdienst, das aus Können und Glück resultiert, erwächst die Prominenz, sei es die kleine Form innerhalb konkreter sozialer Bezüge, wie in einer Familie, einem Dorf, einem Verein oder in einer Kleinstadt, oder die große Form in der Öffentlichkeit, die über diese Bezüge hinausgeht. Aus der ungerechten Mischung von Können und Glück entsteht die Notwendigkeit, dem sozialen Zusammenhalt an anderer Stelle Genüge zu tun. In vielen Fällen engagieren sich die, die da oben sind, egal ob lokale Größen oder Prominente, in der einen oder anderen Weise sozial. Eine häufige Begründung für dieses Engagement ist der Wunsch, von dem Glück, das man selbst gehabt hat, etwas zurückzugeben. Auf dem Weg von den konkreten sozialen Bezügen in die Prominenz verengt sich der Blickwinkel. Unser Interesse als Öffentlichkeit gilt nicht allen, die Meriten erworben haben, sondern beschränkt sich auf die, deren Leben wir in Zusammenhang mit Glamour, Partys, Backstage-Bereichen und VIP-Lounges bringen. Uns interessieren daher kaum die Forscher, Wissenschaftler und Literaten, aber die Schauspieler, Fußballstars und Musiker umso mehr. Politiker und Wirtschaftsmenschen faszinieren uns, nicht, weil sie sexy sind, sondern weil sie sich durch ihre Macht Zugang zu Prominenten verschaffen können. Dadurch werden sie selbst in einer bestimmten Form zu Prominenten. Und natürlich übt die Aura der Macht alleine, wie sie von Politikern und Wirtschaftsbossen ausgeht, eine gewisse Anziehung auf Menschen aus. Niemand kann etwas für den Zusammenhang von Können und Glück. Es ist in die Grundfesten unseres Zusammenlebens, quasi in die Türschwelle zu dieser Welt eingelassen: Das Leben ist nicht fair. Wenn wir in gedeihlicher Weise zusammenleben wollen, müssen wir das akzeptieren. Zu großem Können gesellt sich nicht immer das nötige Glück. Das nötige Glück kann sein, bei einem bestimmten Casting zu überzeugen oder bei einem wichtigen Probetraining auf dem Rasen zu reüssieren. Unser Problem mit allen Formen von "Aus dem Glied treten und nach oben durchstarten", unser Problem mit denen "da oben", beginnt damit: Wir werden, sozial gesehen, nie alle gleich sein. Können und Glück werden in allen freien Gesellschaften Unterschiede hervorbringen. Die, die wir über die Öffentlichkeit als "da oben" erleben, müssen einen besonderen Dienst leisten. Es sind Personen, mit denen sich die Menschen identifizieren wollen, an denen sie sich orientieren wollen. Deshalb sprechen wir unablässig von den Qualitäten unserer Spitzensportler. Wir verehren Sänger, Musiker und Schauspieler. In der Öffentlichkeit konzentrieren sich die Augen aller auf diese Menschen. Sie sollen Identität geben. Das geschieht nicht nur in Zustimmung, sondern auch in Ablehnung. Natürlich kennt man auch die Angehörigen der Parteien, die man selbst nicht wählt, und diskutiert über sie. Man kennt ebenso die Fußballmannschaft, für die man nicht jubelt, und spricht über sie, oder auch über bestimmte Schauspieler und Musiker, für die man nicht schwärmt. In der Öffentlichkeit bilden die Personen, die wir auf diese Weise verehren oder ablehnen, zusammen ein Ensemble. Wir denken, dass diese Prominenten stets miteinander im Austausch sind, eine eigene Welt für sich. Diese Welt ist am ehesten vergleichbar mit den Fresken, die die Philosophen lustwandelnd miteinander zeigen, oder die Heiligen, die im Himmel vereint in der steten Gegenwart Gottes sich immerwährend aneinander freuen. Das ist eine Konstruktion. So wie der Olymp eine Konstruktion war - eine Ansammlung von Göttern mit menschlichen, sehr menschlichen Zügen. Sie betrogen einander und spannten einander die Geliebten aus. Sie waren mürrisch, böse und rachsüchtig. Manchmal liebten sie sehr, manchmal hassten sie umso abgrundtiefer. Auch die Welt und das Leben der Heroen ist eine Konstruktion, in diesem Falle eine literarische: das Leben von Herakles und Odysseus, das Leben Christi, die Abenteuer von Don Quijote, Robin Hood und Sherlock Holmes. Wir idealisieren Lebensläufe und charakterliche Eigenschaften, um sie mit unserem eigenen Leben abzugleichen und um Ideale zu etablieren, denen wir während unseres Lebens nacheifern möchten. Diese literarische Öffentlichkeit aus vergangenen Jahrhunderten ist unserer Öffentlichkeit ähnlich: Beide sind medial vermittelte Öffentlichkeiten. Die Schrift ist ein Medium, das idealisiert. Die Sprache gliedert und strukturiert die Fantasie, die unbegrenzte Welt des potenziell Sagbaren. Was ein Held ist, wird heute erzählt, nicht nur in literarischen Gattungen wie Novelle und Roman vorangegangener Epochen, sondern in einem viel ausdifferenzierteren Set an Formaten und Stilen. Medien sind das, worauf die Geschichte des Helden, den wir synonym gebrauchen mit "dem da oben", der die öffentliche Aufgabe des Vorbilds übernimmt, transportiert wird: sei es eine Zeitungs-, eine Magazin- oder eine Buchseite, sei es ein Fernsehbericht oder ein Kinofilm, sei es auf einer Webseite oder in den sozialen Netzwerken. Das, was als heldenhaftes Verhalten positiv bewertet wird, variiert. Jede Zeit prägt ihre eigenen Ideale aus. Für den mittelalterlichen Menschen war der, der den sieben Todsünden aus dem Weg ging, ein tugendhafter Mensch. Für uns Heutige heißt es hingegen "Geiz ist geil" - Geiz ist eine jener sieben Todsünden. Eine Gesellschaft kann mit ihren Idealen scheitern. Auch wenn es anders scheint: Die Gesellschaft macht ihre Helden, sie erhebt sie in die Öffentlichkeit. Scheitern die Helden, ist die Gesellschaft gescheitert. Wenn der Held die Ansprüche, die die Gesellschaft an ihn richtet, nicht erfüllen kann, gilt es immer, die Ansprüche zu überprüfen. Der Messias, so heißt es, sei jener, der es schaffe, in seiner Person alle Gebote der Thora und des Talmud zu erfüllen, insgesamt etliche hundert. Können unsere Prominenten all das liefern, was wir von ihnen verlangen, was wir ihnen an Idealen aufbürden? Diese Frage heißt zugleich auch: Können wir, kann einer von uns, nach diesen Idealen leben? Nun zurück zu den Namen vom Anfang, zu Rainer Brüderle, Karl-Theodor zu Guttenberg, Uli Hoeneß, Jörg Kachelmann, Annette Schavan, Andreas Türck, Christian Wulff und Klaus Zumwinkel. Wenn sich einer der Helden der Öffentlichkeit etwas zuschulden kommen lässt, dann beginnt der Fall des Helden. Er tritt den Rückweg in das Glied an, zurück zu den Normalsterblichen, zurück in die Reihenhaussiedlung. Sein Abstieg ist begleitet von einem schmutzigen Begleitgesang. Fallender Gott. Mit Mitleid für ihn ist in Deutschland nicht zu rechnen. Das sagt nichts über den, der abstürzt, aber alles über die, in deren Mitte sich der Absturz ereignet. Es ist unerheblich, ob Frau Schavan in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die gängige Zitationsweise genommen hat, die heute nicht mehr Standard ist. Es ist unerheblich, ob Bundespräsident Wulff als Dankeschön für ein Bobbycar, das in der Spielecke von Schloss Bellevue gelandet ist, den Schenker zu seinem Sommerfest einlädt. Zitationsweisen und Bobbycars schaffen in unserem Land steilste Erregungskurven, an denen zweifelsfrei abzulesen ist, dass es hier nicht um die Sache geht, sondern um etwas anderes. Die meisten von uns wissen nicht, wie es in einer Universität oder im Bundespräsidialamt zugeht. Wir wissen immer, wie wir uns verhalten hätten, wenn wir Promovent oder Bundespräsident wären. Die anderen, so sagen es die Sozialwissenschaften, meinen wir an ihren Eigenschaften festmachen zu können. Wir wissen, dass einer machtgeil ist oder eine gierig. Bei uns selber hingegen sind wir geneigt, die Umstände anzuführen, die uns zu unserem Verhalten gezwungen hätten. Beim anderen geht Fehlverhalten auf einen schlechten Charakter zurück, bei uns selber sind die Umstände alternativlos gewesen. Das gilt nicht nur für die Prominenten, für unsere Helden, sondern auch für den Nachbarn. Warum trifft es die Prominenten, die in der Öffentlichkeit stehen, besonders hart? Weil sie eine öffentliche Aufgabe erfüllen. Als Helden füllen sie die Lehrstelle des Vorbilds, die Rolle derer, denen wir nacheifern. Da wir Helden als solche fassen, die bei jeder Party Einlass erhalten und ansonsten auch mit reichlich Vorzügen gesegnet sind, gehen wir davon aus, dass sie für ihr Vorbildsein ausreichend belohnt werden. Aufgrund dieser vermeintlichen und echten Privilegien sagen wir, dass die fallenden Helden, die ehemaligen Bewohner des Olymp, unser hartes Urteil verdient hätten. Diese Zuschreibung kann nur funktionieren, wenn man sich die Prominenten in einer immerwährenden Party vorstellt, so wie die Philosophen der Antike oder die Heiligen der Christenheit. Als Menschen, enthoben aller innerer Zerrissenheit und Anfechtung, immer umgeben von einer Gloriole. In unserer direkten Umgebung gibt es solche Menschen nicht. Wieso sollten die, die in einer Öffentlichkeit virtuell und medial vermittelt vor uns stehen, anders sein? Sie sind nicht anders. Die innere Zerrissenheit - der homo incurvatus in se ipsum, wie Martin Luther das nannte - ist eine Realität, die wir anerkennen müssen, genauso wie die Tatsache, dass das Leben nicht fair ist, und den Umstand, dass sich zu Können leider nicht immer das verdiente Glück gesellt. Der Mensch ist immer zugleich ein Sünder und ein Gerechter - homo simul iustus et peccator, auch das ist von Martin Luther. Der Mensch hat Ideale und weiß, dass er ihnen nicht immer gerecht wird. Im anderen erblicken wir uns selbst: Wollen wir mit den fallenden Helden auch unsere eigenen Untugenden einreißen? Ich fürchte, der Zusammenhang zwischen dem Balken in unserem Auge und dem Splitter im Auge des anderen ist uns nicht immer bewusst, wenn wir agieren. Sind die Prominenten denn nun anders? Nein, sie sind nicht anders. Sie verdienen, was wir auch für uns selbst wünschen: Sympathie und Respekt. Sympathie ist die Fähigkeit, Mit-Leid zu empfinden, also Mit-Gefühl mit dem Mit-Menschen zu haben. Respekt ist eine Form des nötigen Abstands vor dem Geschick und den Lebensumständen von anderen Menschen. Diese Streitschrift wirbt nicht zwingend um Verständnis mit gefallenen Helden. Sie sagt vielmehr: An unserem Umgang mit den Prominenten zeigt sich, dass wir als Gesellschaft ein Problem haben. Denn die Prominenten haben kleine Geschwister, vielleicht in jeder Familie. Ihre charakterliche Disposition unterscheidet sich zudem nicht von der anderer Menschen. Die Moral, die sie in ihrem Leben verwirklichen sollen, ist unsere Moral, ist die Moral der größten Gruppe in Deutschland, die der Mittelschicht. Wir beobachten an dem Umgang mit den Prominenten Dinge, die nicht unsere Helden betreffen, sondern unser Zusammenleben: Die Häme bestimmt den öffentlichen Diskurs. Barmherzigkeit wird nicht gewährt. Wenn wir so weitermachen, wird uns als Gesellschaft bald jeder Zusammenhalt abhandenkommen. Wir müssen uns, das ist eine zentrale Forderung dieser Streitschrift, von unserer Fixierung auf Personen lösen. Wir müssen über Ideen sprechen, über Ideen, die unser Zusammenleben fördern. Wir müssen über Ideen streiten, die uns voranbringen.

Wer ist angesprochen? Es wird hier so sein, wie es häufig der Fall ist: Die, die eigentlich gemeint sind, kümmert es nicht. Die, die eigentlich nicht gemeint sind, nehmen es sich zu Herzen. Meine Analyse ist, dass die Öffentlichkeit als virtuelle Größe Häme zur Tugend macht, Barmherzigkeit als Schwäche brandmarkt und das Kreisen um Personen zu einer intellektuellen Herausforderung erhebt. Das, was die Öffentlichkeit präsentiert, wird von vielen Menschen in ihren konkreten sozialen Bezügen übernommen. So schleicht sich die Häme, eine Begleiterscheinung des Neids, aus der Talkshow in die Gewerkschaftssitzung und den Ausflug der katholischen Landfrauen. Der Pranger, der in der Öffentlichkeit errichtet wird, wird zum Begleiter des täglichen Lebens. Wer kann sich noch einen Fehler erlauben? Was werden die Konsequenzen sein?

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
152 Seiten
ISBN:
9783593425337
Erschienen:
September 2014
Verlag:
Campus Verlag GmbH
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